Boykotte halten uns Israelis einen Spiegel vor: Ist eure staatlich sanktionierte Ablehnung ein sinnvoller Akt des Widerstands gegen Gaza oder lediglich eine harmlose Möglichkeit, eine Fassade der Akzeptanz zu wahren?
Diese Woche erschien in «The Guardian» ein von Tausenden Filmschaffenden unterzeichneter Brief, der wegen des Krieges in Gaza zu einem Boykott israelischer Filmemacher und Festivals aufruft. Ich bin seit über 30 Jahren Dokumentarfilmerin in Israel. Dieser Boykott würde mich und Kollegen treffen. Nach der ersten Abwehr kam die Erkenntnis: Was wir Israelis am meisten brauchen, ist, dass man uns boykottiert.
Die sofortige Reaktion der meisten Vertreter der Filmindustrie war wie erwartet. Wir waren schockiert, verletzt, empörten uns über die Ungerechtigkeit. Wie konnten sie uns ins Visier nehmen? Wir, die Kunst schaffen, Proteste und Petitionen initiieren, die Taten gegen Palästinenser kritisieren.
Der Produzentenverband erklärte in seiner Antwort, dass «die Unterzeichner die falschen Leute ins Visier nehmen». In der Erklärung heisst es, Israels Filmindustrie sei seit Jahrzehnten die «wichtigste Stimme», die Komplexität und palästinensische Narrative präsentiere. Der Boykott sei «fehlgeleitet», da er Dialog fördernde Stimmen zum Schweigen bringe.
Wir können uns nicht zwischen dem Kampf gegen Antisemitismus und der Verurteilung Israels für Gaza entscheiden. Die Isolation Israels ist schmerzhaft – aber auch notwendig. An jene, die sagen: «Ich bin Israeli, aber nicht die Regierung Netanyahu»: Beweist es. Es fühlt sich unfair an, dass Filmemacher ins Visier genommen werden. Als ich das Video von Pedro Almodóvar sah, der zum Boykott aufrief, traf es mich. Wir sehen uns als Gewissen der Nation, als diejenigen, die gegen den Krieg sind – warum werden wir bestraft?
Doch nach meiner ersten Reaktion folgte eine schwierigere Wahrheit, die unsere Verbände nicht formulieren. Ihre Antwort mag stimmen – ist aber unzureichend. In unserem Namen, mit unseren Steuergeldern, durch die Regierung, die uns vertritt, werden Gräueltaten begangen. Das beweist, dass wir nicht genug tun. Die Wahrheit ist: Was in Gaza und im Westjordanland geschieht, ist auch unsere Verantwortung.
Kann der internationale Druck durch Boykott erreichen, was kritische Filme und Proteste nicht schafften? Vielleicht müssen wir die Welt bitten, unsere Regierung mit allen Mitteln zu stoppen: keine Waffen mehr liefern, Botschafter abziehen, einen palästinensischen Staat anerkennen, Hilfe nach Gaza senden. Wenn das bedeutet, dass Filme und Lebensunterhalt leiden – sei es so. Vielleicht ist der Schmerz der kulturellen Isolation der Preis, um den Krieg zu beenden.
Boykotte definieren unsere Teilnahme an staatlich geförderten Festivals neu: nicht als unabhängige Künstler, sondern als mitschuldige Vertreter des Staates. Sie stellen die Frage: Ist unsere Dissidenz wirklicher Widerstand – oder nur Kulisse?
Dieser Boykottbrief zwingt mich, das zu fragen – und sollte alle Israelis dazu bringen. Was erwarten Almodóvar und die Unterzeichner? Sie erwarten, dass die Mehrheit, die den Krieg angeblich nicht will, das auch beweist.
Wir müssen unsere Regierung stürzen, Militärdienst verweigern, streiken, das Leben anhalten – bis die Verbrechen beendet sind.
Die Situation erfordert eine radikale Eskalation, die Antikriegsbewegung reicht nicht. Sie wird niedergeschlagen, kriminalisiert, mit Wasserwerfern und Verhaftungen bekämpft. Wir schaffen es nicht allein.
Hätte mich der Verband gefragt, hätte ich geantwortet: «Danke an alle kreativen Kollegen weltweit, danke für die Unterstützung. Wir hoffen, mit Ihrer Hilfe den Schrecken beenden zu können.»
Das ist kein Ruf nach Mitleid, sondern ein Eingeständnis des Scheiterns und ein Hilferuf. Der Boykott ist ein schmerzhafter Akt der Solidarität.
Das Bild ist erschreckend – aber wir können es uns nicht mehr leisten, wegzusehen.
Avigail Sperber ist israelische Kamerafrau und Regisseurin, Gründerin von Pardes Film Productions und der religiösen Organisation Bat Kol für lesbische orthodoxe Jüdinnen.
zur lage in israel
12. Sep 2025
Danke, dass ihr mich boykottiert
Avigail Sperber