Talmud heute 25. Apr 2025

Beethoven und blühende Bäume

Ich bin ein Nachrichten-Freak. Wenn ich nicht gerade beschäftigt bin, schalte ich automatisch jede runde Stunde das Radio ein und höre mir die News an. In Israel gibt es ja fast jede Minute irgendetwas Neues, und seit Beginn des Krieges vor anderthalb Jahren erst recht. Als stolzer Vater eines Soldaten und einer Soldatin in der IDF verfolgt man das Geschehen sowieso intensiver als sonst. So war es auch vor einigen Tagen der Fall. Ich fuhr in meinem Auto, es war 14.59 Uhr und meine rechte Hand machte sich daran, das Radio für die Nachrichten einzuschalten. Da geschah es. Statt auf einen der Nachrichtensender auf meinem kleinen Auto-Bildschirm zu drücken, vertippte sich mein Zeigefinger und wählte irrtümlicherweise den Kanal Kol hamusika («Die Stimme der Musik»), die israelische Version von SRF2, die tagein tagaus klassische Musik spielt. Es ertönte die «Eroica», die dritte Symphonie von Ludwig van Beethoven (Opus 55), und zog mich auf Anhieb in ihren Bann. Ich sehe noch genau vor mir, wie ich versuchte, auf die Nachrichten umzuschalten, aber es ging einfach nicht. Meine Hand war wie gelähmt und schaffte es nicht, Beethovens be- und verzaubernde Töne zu verlassen. 15.01 Uhr, 15.02 Uhr … die Nachrichten waren endgültig dahin, stattdessen frönte meine Seele diesem 222 Jahre alten musikalischen Meisterwerk. Ich spürte wahrhaftig, wie ich von dieser unbeschreiblichen, aus meinem Auto-Radio ertönenden tonalen Schönheit hineingezogen, hineingesogen wurde. Ich genoss diese Minuten, abseits der besorgniserregenden Realität; es war ein simpler Genuss von Göttlichkeit auf Erden.

Dieses Innehalten und Sich-bewusst-Werden der Schönheit in dieser Welt widerhallt in einer kleinen, ziemlich unbekannten «beracha» (Segensspruch), die in den meisten «siddurim» (Gebetsbüchern) gedruckt ist, jedoch von den meisten, selbst observanten Juden unverständlicherweise ignoriert wird: «Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der in seiner Welt solches hat.» Gemäss dem Talmud wird dieser Segensspruch «beim Anblick eines besonders schönen Geschöpfes oder eines besonders schönen Baumes» gesagt (Babylonischer Talmud, Berachot 58b). Unter den «Geschöpfen» sind hierbei nicht nur hübsche Menschen, sondern auch Tiere gemeint, wie etwa «ein besonders schöner Esel oder ein besonders schönes Kamel» (Jerusalemer Talmud, Avoda Sara 1)! Der Wortlaut dieses Segensspruches, «der in seiner Welt solches hat», ist nicht nur wunderschön in seiner deskriptiven Simplistik, er ist auch äusserst ungewöhnlich. Ja, in der Tat, «solches hat es» in Gottes Schöpfung: die Schönheit existiert überall! Wir müssen nur unsere Sinnesorgane öffnen und sie wahrnehmen.

Interessanterweise wird der Wortlaut des Talmuds bezüglich der Verwendung dieser «beracha» in einem anderen, längeren Segensspruch, welcher in diesen Tagen, das heisst im jüdischen Frühlingsmonat Nissan, einmal jährlich gesprochen wird, eingebaut. Im Talmud heisst es: «Rabbi Jehuda sagte: Wer in den Tagen des Nissan hinausgeht und die Bäume blühen sieht, spreche: ‹Gepriesen sei er, der es in seiner Welt an nichts fehlen liess und in dieser schöne Geschöpfe und schöne Bäume erschaffen hat, die Menschen an ihnen sich ergötzen zu lassen›» (Berachot 43b). Nebst der Vergegenwärtigung der Schönheit in Gottes Schöpfung ist diese «beracha» auch mit einem Aufruf verbunden: Jetzt, wo der Winter vorbei ist und die Natur langsam aus ihrem Winterschlaf erwacht, soll man hinausgehen und die Schönheit in Gottes Natur – sowohl bei den Menschen, als auch bei Fauna und Flora – bestaunen. Wer im Lehrhaus vor einem heiligen Buch sitzen bleibt, wird diesen Segensspruch nicht sagen können! Gemäss Maimonides (1138–1204) wurzeln gar Gottesfurcht und Gottesliebe überraschenderweise nicht im Studium der Heiligen Schrift, sondern allem voran in der Beobachtung der Natur (Rambam, Mischne Thora, Jesode haTorah 2:2).

Der Segensspruch über die neublühenden Bäume beinhaltet jedoch auch eine weitere Botschaft: Gerade wenn die tiefe, kühle Nacht des Winters vorbei ist, gilt es, die Augen zu öffnen und die kleinen, sich öffnenden Knospen wahrzunehmen. Dieser Segensspruch symbolisiert insofern den Glauben in die Zukunft, den Glauben an das Gute! Diese Botschaft ist heute, zwischen dem gestrigen Jom Haschoah, dem Holocaust-Gedenktag, und dem nächstwöchigen Jom Haazmaut, dem israelischen Unabhängigkeitstag, besonders passend. Die Schoah war eine tiefe und unfassbare Nacht. Und doch war es dem jüdischen Volk vergönnt, nur drei Jahre nach Auschwitz einen unabhängigen jüdischen Staat ins Leben zu rufen. Weitere Glückserfahrungen folgten: Das Überleben und Wachsen des jungen Israel, die Vereinigung Jerusalems, die grosse Einwanderung, Wohlstand, Spiritualität … Ohne in irgendeiner Weise die Einzigartigkeit des Holocausts schmälern zu wollen – auch Israel im Frühjahr 2025 hat einen anderthalbjährigen Winter hinter sich. Nebst den bisher 1862 gefallenen Soldaten und ermordeten Zivilisten befinden sich gegenwärtig noch 24 lebende Geiseln sowie 35 Leichen in Gaza. Trotz dieser schrecklichen Realität dürfen die etlichen Pluspunkte und Lichtblicke, die vielen kleinen Knospen dieses Krieges, nicht ignoriert werden: Die unermessliche und bewegende Solidarität innerhalb der Bevölkerung sowie die deutliche Schwächung Irans, der Hamas, der Hizbollah, der Huthi und Syriens bedeuten eine sensationelle Stärkung Israels im geopolitischen Bereich. Es gilt, für all diese kleinen Wunder dankbar zu sein, selbst wenn im Makro-Bild beileibe noch nicht alle Wunden geheilt und alle Missstände behoben sind.

Der Auszug der Israeliten aus Ägypten erfolgte nicht zufällig im Frühling (2. B. M. 34:18), denn nach der unerträglichen Nacht der Versklavung liegt es an den Israeliten damals und heute, trotz des Schmerzes der Vergangenheit die errungene Freiheit sowie die vielen Schönheiten in Gottes Schöpfung anzuerkennen. Und diese können sich sowohl in blühenden Bäumen als auch in Beethovens «Eroica» verbergen.

Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem.

Emanuel Cohn