im Gespräch 30. Mai 2025

Antisemitismus wird links und rechts missbraucht

Nora Refaeil orientiert sich an Erfahrungen von Menschen abseits von Definitionen.

Interview mit Nora Refaeil, Anwältin, Mediatorin und EKR-Vizepräsidentin, über Aufklärung gegen Rassismus und Antisemitismus in der Schweiz.

tachles: Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) begeht kommende Woche das 30-Jahr-Jubiläum – was bedeutet das über das symbolische Datum hinaus?
Nora Refaeil: Die EKR ist eine ausserparlamentarische, unabhängige Kommission. Sie wurde vor 30 Jahren im Rahmen der Ratifizierung des internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom Bundesrat eingesetzt, um mehr Prävention, Sensibilisierung und Fachexpertise im Bereich Rassismus einzubringen.

Ausgangspunkt für viele Tätigkeiten der EKR ist die Rassismusstrafnorm 261bis. Wie sieht aber der Alltag der Kommission aus?
Wir sind beratend tätig; Menschen gelangen direkt mit Fragen an uns, auch viele Medienschaffende. Besonders viel zu tun haben wir, wenn etwas Politisches oder Öffentliches geschieht und wir dies einordnen sollen. Wir geben auch Gutachten und Studien in Auftrag, zum Beispiel zum Thema Rassismus und Repräsentation gesellschaftlicher Diversität in Lehrmitteln oder zum zivilrechtlichen Schutz vor Diskriminierung in den Bereichen Arbeit und Wohnen.

Angesichts der populistischen Entwicklungen in Europa stellt sich die Frage, wie man in dieser Arbeit zu grosse Verpolitisierung vermeiden soll.
Unsere Ausgangslage sind die rechtlichen Grundlagen. Einerseits die in der Verfassung zugesicherte Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz sowie das Diskriminierungsverbot, andererseits die Rassismusstrafnorm. Aber es gibt auch Forschungsergebnisse, auf die wir uns beziehen. So etwa die wichtige Erkenntnis, wie struktureller Rassismus wirkt. Da geht es um die Frage, wie auf den ersten Blick «unsichtbare» oder «neutrale» Strukturen und Prozesse in einer Gesellschaft Menschen benachteiligen.

Der Staat, Behörden oder Verwaltung selbst generieren in diesem Rahmen Rassismus, ohne es zu wollen. Haben Sie Beispiele dafür?
Für das Verständnis des strukturellen Rassismus muss man sich in der Geschichte positionieren – welche geschichtlichen Ereignisse sind mit unserem Denken, Handeln und insbesondere unseren Vorurteilen von heute verbunden? Der Rassismus gegen Schwarze zum Beispiel ist stark von der kolonialen Vergangenheit der Schweiz geprägt. Es ist dieser historische Rucksack, dessen sich die Schweiz kaum angenommen hat, auch wenn sie keine eigenen Kolonien hatte. Oder die Feststellung von Professor Oliver Diggelmanns Gutachten, das zum Schluss kommt, das Vorgehen der Behörden im Zusammenhang mit «Kinder der Landstrasse» – der systematischen und rassistisch motivierten Verfolgung der Jenischen – stelle ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Zwischen dem Verständnis dieser Vorgänge der Schweizer Behörden und der Diskriminierung, welche die Jenischen heute erfahren, besteht ein direkter Zusammenhang. Ein weiteres Thema ist die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs im Zusammenhang mit der Behandlung und Wegweisung jüdischer Menschen, woraus noch immer vorhandene Vorurteile gegen sie entstehen.

Sie beschäftigen sich unter anderem mit transformativer Gerechtigkeit. Was heisst das konkret für die Rassismus-Prävention?
Ich behandle dieses Thema aus zwei Perspektiven. Eine ist tatsächlich die Aufarbeitung der Vergangenheit, um auf die heutigen Ungerechtigkeiten besser sensibilisieren und korrekt reagieren zu können. Dazu gehören etwa auch die Menschenrechtsverletzungen, welche den Menschen mit einem Saisonnierstatut zugefügt wurden, indem ihnen verboten wurde, ihre Familien und ihre Kinder in die Schweiz zu bringen – ein grosses Unrecht und Leid für sie. Daraus kann man eine direkte Verbindung machen zur Nachhaltigkeitsinitiative der SVP, also von der Vergangenheit zu heute. Vielfach begleite ich auch Institutionen, damit sie diverser, inklusiver und anschlussfähiger werden und wirklich die Gesellschaft repräsentieren, die es heute in der Schweiz gibt. Mindestens 40 Prozent der Menschen in der Schweiz haben eine Migrationserfahrung und 25 Prozent haben eine andere Erstsprache als eine unserer Landessprachen.

Wenn es um die Führung des Migrationsdiskurses geht, werden solche Themen von der Politik ganz anders aufgenommen. Woran liegt das? Politischer Populismus? Zu wenig Aufklärungsarbeit?
Einerseits können wir sagen, dass gerade in Bezug auf Rassismus heute eine grössere Sensibilität herrscht und auch ein Bewusstsein auf verschiedenen Seiten. Das geht auch aus den zahlreichen Meldungen von Rassismus-Betroffenen oder ihren Angehörigen hervor; wir werden auch viel mehr um Beratung und Einordnung gebeten. Aber wir leben nun in einer polarisierten Zeit, die mit einer Vereinfachung einhergeht. Die Menschen haben ihre festen Meinungen und hören gar nicht zu, es geht darum, recht zu haben. Das macht natürlich eine differenzierte Befassung mit diesen heiklen Themen schwer.

Im Kontext des Balkankriegs hat die Schweiz Hunderttausende Flüchtlinge aufgenommen, und das hat gut funktioniert. Hat die Schweiz seither viel gelernt?
Ja und nein. Wir haben jetzt das Beispiel mit den Flüchtlingen aus der Ukraine. Gleichzeitig war das mit den Flüchtlingen vom Balkan nicht so einfach – eine Form von für die Schweiz spezifischem Rassismus ist jene des Anti-Balkanismus. Man hat zwar Zugang geschaffen, aber gleichzeitig wird versucht, die Situation im Kosovo so zu arrangieren, dass die Menschen auch wieder dorthin zurückgehen können. Das gilt auch für die Ukraine und den Schutzstatus S.

Rassismus ist ja nicht das einzige Problem. In den letzten Jahren haben Ausgrenzungen, Diskriminierungen und Übergriffe auf Frauen wieder zugenommen. Wie betrifft das Ihre Arbeit?
Richtig. Die EKR ist per se nicht für die Diskriminierung von Frauen zuständig, dafür gibt es die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen und spezifische Fachgremien auf Bundes- und kantonaler Ebene. Wichtig ist dabei aber das Thema der Mehrfachdiskriminierung: der Ausschluss von Frauen mit migrantischem Hintergrund und dazu noch konnotiert mit Religion. So werden Frauen mit türkischem Namen und Kopftuch gemäss Studien mehrfach diskriminiert. Das fällt dann schon auch in unseren Bereich. Aber man hat in Bezug auf die Gleichstellung von Frauen viel erreicht: Mit dem Gleichstellungsgesetz haben wir einen guten gesetzlichen Schutz, zum Beispiel mit einer Beweislasterleichterung. Für Rassismen hat man das nicht, das fehlt uns.

Seit dem 7. Oktober 2023 ist der artikulierte Antisemitismus stärker geworden. Was heisst das für die EKR?
Das beschäftigt uns sehr, wir schauen genau hin und haben viele Meldungen in diesem Zusammenhang. Wir versuchen auch immer wieder, eine Sachlichkeit in die Diskussion einzubringen. Aber wir sind auch besorgt, weil wir nicht davon ausgehen, dass mit dem Rassismus generell beschäftigte Menschen auch das Thema Antisemitismus sehen. Wir haben alle Vorurteile, und die Geschehnisse in Gaza fordern uns heraus. Damit kommen ganz alte antisemitische Vorurteile wieder auf, und das betrifft alle – auch jene, die sich sonst gut mit Rassismus auseinandersetzen. Aber beim Antisemitismus ist diese Sensibilität einfach nicht per se gegeben. Das heisst, wir müssen wirklich auf allen Ebenen hinschauen: bei den Linken, sogar den Antirassisten, und bei den Rechten.

Die politisch-ideologische Diskussion überlagert also die Fachebene und selbst jene, die es besser wissen sollten, tappen in die Falle. Haben Sie dazu Beispiele?
Ich kann das so wirklich bestätigen, möchte aber nicht namentlich Institutionen oder Personen nennen. Aber gut gemeinte Pro-Palästina-Bekenntnisse, die sich dem Thema unkritisch widmen, mögen schon in Antisemitismus münden. Wobei ich bei der Definition dessen, was antisemitisch ist und was nicht, vorsichtig bin. Das Thema ist so viel gesetzt und gebraucht worden, dass manches langsam unglaubwürdig wird und bei den Leuten nicht ankommt. Sie sind dessen einfach müde, weil sie auch in ihrer Kritik ernst genommen werden wollen. Gleichwohl gibt es schon Tendenzen, bei denen ich mich fragen muss, woher diese Vehemenz und diese Einseitigkeit rühren. Bei den Linken wie den Rechten wird das Thema Antisemitismus eben für die eigenen Zwecke missbraucht und man muss schauen, was politisch eigentlich dahinter- steht.

Viele Begriffe wie Antisemitismus und Gender sind ja schon überdefiniert. Wie kann man – abseits des politischen Diskurses und auf realer Ebene – richtig und integer funktionieren?
Diese Frage spricht mich sehr an. Ich mache Mediationen, insbesondere zum Thema struktureller Ausschluss, Rassismus, Sexismus und Antisemitismus. In dieser Arbeit ist es immer wieder auch wichtig, von diesen Definitionen wegzukommen. Denn wir haben so viele davon, und jeder versteht sie wieder anders. Es hat oft wenig Sinn, über die Definitionen zu streiten, sondern es geht darum, zu schauen, wo wir heute sind, um was es bei dem Thema geht, das wir behandeln, was die verschiedenen Perspektiven sind und wie die Dinge wirken. Die Wahrnehmung ist je nachdem, wer welche Erfahrung gemacht hat, bei den Betroffenen eben anders. Wichtig ist zu schauen, worum es wirklich geht, was man in einer bestimmten Situation gemeinsam erreichen will und wie man in einer Gesellschaft letztlich sein und leben will. Diese Fragen sind oft wichtiger, als auf Definitionen herumzureiten.

Entgegen anfänglichen Befürchtungen hat sich die Rassismusstrafnorm mit vernunft- und rechtsbasierten Entscheiden von Gerichten durchgesetzt, und nicht mit definitionsbasierten.
Eine rein objektive Perspektive und Interpretation gibt es wohl nicht – auch Richter haben Vorurteile beziehungsweise sind politisch geprägt. Wenn ich aber in die USA schaue und unsere heutige Situation wahrnehme, bin ich sehr froh, dass wir hier immer noch diesen Zugang zur Rechtsstaatlichkeit haben und unseren Rechtsinstitutionen grundsätzlich vertrauen können. Es ist wichtig, dass wir uns dessen bewusst sind und nicht auch bei uns alles abreissen. Gleichzeitig ist das Thema der Bewusstmachung von Vorurteilen und wie diese auf die Entscheidungsfindung im juristischen Bereich wirken, ein ganz wesentliches. Da sind wir noch nicht dort, wo wir sein sollten.

Yves Kugelmann