Interview 16. Jun 2025

«Im Moment bin ich dankbar, dass ich am Leben bin»

«Es war ein ohrenbetäubender Knall – die Bunkertür wurde aus den Fugen gerissen»

tachles-Redakteurin Emily Langloh lebt seit 2018 in Tel Aviv. In der Nacht auf Montag wurde ihre Wohnung durch einen benachbarten Raketeneinschlag teils zerstört. Im Interview schildert sie die Ereignisse, die für viele Israeli im Moment neue Realität sind.

tachles: Gestern Sonntag haben Sie die Situation im ersten tachles-Interview  im Bunker beschrieben. Nun haben Sie wieder eine Nacht im Bunker verbracht. Eine Strasse weiter ist eine iranische Rakete niedergegangen. Was ist geschehen?

Emily Langloh: Ja. Wir mussten uns bereits einige Stunden zuvor wegen einer Warnmeldung in Sicherheit bringen. Doch gegen 4 Uhr morgens ertönte erneut die Meldung, dass ein Angriff aus dem Iran bevorsteht. Wir flüchteten in den Bunker unseres Nachbarhauses. Kurz darauf begann die erste Welle von insgesamt neunzig ballistischen Raketen, die auf uns abgefeuert wurden. Als wir im Bunker sassen, gab es plötzlich eine gewaltige Explosion, ein ohrenbetäubender Knall, bei dem die schwere Metalltür des Bunkers von der Druckwelle regelrecht aus den Fugen gerissen wurde. In dem Moment war uns klar, dass der Einschlag ganz in der Nähe stattgefunden haben musste. Ich konnte durch den Druck stundenlang kaum noch etwas hören. Als wir den Bunker schliesslich verlassen konnten, bot sich uns ein Bild der Verwüstung. Die ganze Strasse war übersät mit Glasscherben und Trümmern. Bei fast allen Häusern in der Umgebung waren die Fenster zerbrochen. Man konnte in viele Wohnungen hineinschauen und sehen, dass sie auch im Inneren stark beschädigt waren. Wir erfuhren, dass die Rakete nur eine Strasse weiter eingeschlagen war und dort zwei Häuser vollständig zerstört wurden. Menschen weinten, überall waren Alarmanlagen und Sirenen von Krankenwagen zu hören. Es herrschte grosses Chaos, und der Schock war tief. Ich musste mich erst hinsetzen und einen Moment warten, bis ich mich etwas gefasst hatte, bevor ich überhaupt reagieren konnte.


Wie geht es Ihnen?

Soweit geht es mir gut, aber es fühlt sich alles noch sehr surreal an. Im Moment bin ich vor allem dankbar, dass ich am Leben bin und dass nichts Schlimmeres passiert ist. Gleichzeitig wird einem in solchen Momenten schmerzlich bewusst, wie willkürlich es ist und dass es wirklich jeden von uns treffen kann. Ich habe den Rest der Nacht und den ganzen Morgen damit verbracht, unsere Wohnung von Scherben und Trümmern zu befreien. Es war überall Glas, die meisten Fenster sind beschädigt. Ich bin daher körperlich völlig erschöpft und kaum zum Schlafen gekommen. Dazu kamen Schwindel, Übelkeit und ein anhaltendes Pfeifen in den Ohren. Erst nach einigen Stunden konnte ich wieder richtig hören. Vorhin bin ich ausserdem ein Stück mit meinem Hund spazieren gegangen. Dabei habe ich die Zerstörung in der Nachbarschaft gesehen. Das hat mich sehr traurig gemacht und tief getroffen.


Wie viele Opfer gab es?

Im Zentrum von Tel Aviv gab es zum Glück keine Todesopfer. Insgesamt sind bei den Angriffen letzte Nacht jedoch acht Menschen ums Leben gekommen – drei in Haifa, vier in Petah Tikva und ein Mann in Bnei Brak. Mehr als 300 Menschen wurden verletzt.


Was tun Behörden oder Care-Teams?

Seit den frühen Morgenstunden sind Einsatzteams der Stadt, von Magen David Adom und der Armee unterwegs, um beim Aufräumen zu helfen und Wohnungen wieder zugänglich zu machen. Das Militär ist stark eingebunden, unterstützt bei der Trümmerbeseitigung und leistet erste Hilfe. Es wurden Anlaufstellen eingerichtet, an die sich Betroffene wenden können, und es sind Teams im Einsatz, die von Haus zu Haus gehen, um Schäden zu begutachten und einzuschätzen, ob die Gebäude noch bewohnbar sind. Neben den offiziellen Stellen engagieren sich auch zahlreiche Freiwillige. Viele helfen, das Chaos zu beseitigen, zerschlagene Fenster provisorisch abzudecken und Nachbarn zu unterstützen, wo Hilfe gebraucht wird.
 

Ihre Wohnung wurde von der Druckwelle teils zerstört. Die Strasse sieht aus wie im Kriegsgebiet. Was müssen Sie jetzt tun?

Zuerst mussten wir die Trümmer und das zerbrochene Glas beseitigen, um die Wohnung überhaupt wieder betreten zu können und einen Überblick über die Schäden zu bekommen. Alle zerstörten Fenster haben wir provisorisch abgeklebt, aber es wird wohl eine Weile dauern, bis sie repariert werden können, da so viele Häuser beschädigt und Fenster herausgerissen sind. Am schwierigsten ist jedoch, dass es sich nicht um ein einmaliges Ereignis handelt. Die Gefahr ist nicht vorbei. Wir müssen permanent damit rechnen, dass es auch in der kommenden Nacht wieder Raketenangriffe geben wird.
 

Sie haben Kontakt zu vielen Schweizern in Israel. Bis jetzt sind diese nicht von Raketen betroffen, viele sind gestrandet, rund 46 wollen gemäss Behördenangaben ausreisen. Was hören Sie und wie hilft das Schweizer Konsulat in Tel Aviv?

Ja, ich kenne einige Schweizer, auch solche, die hier im Urlaub waren und nun hier gestrandet sind. Da wird vom Konsulat nicht viel gemacht. Es wurde von Anfang an klar kommuniziert, dass die Schweiz keine Evakuierungsflüge anbietet und ein gewisses Mass an Selbstverantwortung erwartet wird.


Die zerstörte Strassenzüge Mitten in Tel Aviv.

Das Land steht still. Geschäfte, Büros, Schulen sind geschlossen. Wie ist die Lebensmittelversorgung?


Die Lebensmittelversorgung funktioniert im Moment grundsätzlich gut. Man sorgt einfach dafür, genügend Vorräte zu Hause zu haben. In den Geschäften ist das meiste erhältlich. Engpässe gab es zeitweise bei Wasserflaschen, da viele diese mit in die Schutzräume nehmen, falls man dort länger ausharren muss. Trotz der angespannten Lage und den etwas weniger belebten Strassen ist es bemerkenswert, dass auch manche Cafés geöffnet bleiben. Viele von uns nutzen die Gelegenheit, uns dort zu treffen und die Nachbarn wiederzusehen, mit denen man nachts im Bunker war – ein Stück Normalität und Gemeinschaft inmitten der Unsicherheit.


Wo werden Sie selbst heute Abend übernachten und wie sehen die nächsten Tage aus?

Trotz der Schäden in unserer Wohnung und der zerbrochenen Fenster wurde sie als grundsätzlich sicher eingestuft. Deshalb werden mein Mann, unser Hund und ich die Nacht weiterhin in unserem Zuhause in Tel Aviv verbringen. Auch weil wir wissen, dass wir in unserer Nachbarschaft gut aufgehoben sind – wir haben Freunde um uns und viele hilfsbereite Menschen, auf die wir zählen können. Für die kommenden Tage gilt: Wir nehmen es, wie es kommt, und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Wie viele hier in Israel spüren auch wir, wie gut es tut, sich zu engagieren und anderen beizustehen. Das stärkt den Zusammenhalt und hilft, die eigenen Sorgen zumindest zeitweise in den Hintergrund zu stellen.

Yves Kugelmann