Interview 15. Jun 2025

Im Bunker mit den Nachbarn

Iranischer Raketeneinschlag Mitten in Tel Aviv am Samstagabend.

Tachles-Redakteurin Emily Langloh lebt seit 2018 in Tel Aviv. Im Interview schildert sie die  Tage der iranischen Raketenangriffe auf Israel.

Tachles Sie haben die iranischen Angriffe der letzten Tage in Tel Aviv erlebt – mit Alarmen, im Sicherheitsraum und mit Einschlägen. Was war anders als bei den Angriffen der Hamas oder Huthis in den letzten Monaten?

Emily Langloh: Auch die Angriffe der Hamas oder Huthis waren ernst zu nehmen. Aber dieses Mal fühlt sich die Lage deutlich bedrohlicher an. Der Iran ist militärisch wesentlich stärker, die Angriffe waren intensiver und gezielter, mehr Raketen schlugen tatsächlich ein, auch direkt in Tel Aviv. Die Zahl der Todesopfer ist höher, und das Bewusstsein, dass es jeden von uns treffen kann, ist deutlich spürbarer. In meinem Umfeld wurden Häuser von Freunden getroffen, was die Bedrohung sehr konkret und persönlich macht. Anders als bei den Huthi-Angriffen, bei denen wir meist kurz ins Treppenhaus mussten, verbringen wir nun stundenlang in den Schutzräumen. Auch der Luftraum ist derzeit gesperrt, der Flughafen geschlossen – das gab es selbst in den heftigsten Phasen des Gaza-Kriegs kaum.

Emily

Emily Langloh Samstagnacht im Bunker in Tel Aviv.

 

Die Warnzeiten für die iranischen Raketen sind kürzer, die Informationen der Sicherheitsbehörden besser als früher. Wie läuft das ab?

Sobald ein Raketenangriff aus dem Iran erkannt wird, erhalten wir eine erste Benachrichtigung über die App des Home Front Command mit der Aufforderung, in der Nähe eines Schutzraums zu bleiben. Etwa zehn Minuten vor dem Einschlag kommt dann eine Warnmeldung direkt von der Regierung aufs
Handy, mit einem durchdringenden Warnton und der Anweisung, sich sofort in Sicherheit zu bringen. Diese Zeit reicht gerade aus, um unsere Notfalltaschen zu holen, die neben der Tür bereitstehen. Darin sind Pässe, Wasser, Bargeld, eine Powerbank und Futter für unseren Hund. Danach gehen wir in den Bunker und warten da, bis es heisst, dass wir wieder rausdürfen. Je nachdem, wie heftig der Angriff ist, kann das ein paar Stunden dauern. Da wir in einer Strasse mit älteren Gebäuden wohnen, hat nicht jedes Haus einen eigenen Bunker. Am ersten Tag funktionierte das Warnsystem nicht richtig, wir wurden erst durch die Sirene geweckt. Von da an blieben nur etwa anderthalb Minuten, um den öffentlichen Schutzraum gegenüber zu erreichen. Wir waren noch auf der Strasse, als die Sirene verstummte und die Raketen über uns hinwegflogen – das war ein beängstigender Moment.

Wie beurteilen Sie die Stimmung in der Bevölkerung?

Emily Langloh: Die Stimmung in der Bevölkerung ist geprägt von Gegensätzen. Die Lage ist extrem belastend. Viele Menschen sind erschöpft von den langen Nächten in den Schutzräumen. Gleichzeitig zeigt sich, wie widerstandsfähig die israelische Gesellschaft ist. Der Überlebenswille ist stark, und viele finden sogar eine erstaunliche Kraft inmitten der Bedrohung, fast so, als würden wir in dieser Extremsituation aufblühen. Wir sitzen im Bunker mit unseren Nachbarn, erzählen fremden Kindern Geschichten um drei Uhr morgens, um sie abzulenken von der Gefahr draussen, unsere Hunde spielen zusammen, während draussen die Sirenen heulen – Fremde werden zu Freunden. Heute haben wir zum Beispiel mit den Nachbarn im Schutzraum den zehnten Geburtstag eines Kindes gefeiert. Als draussen die Sirenen erklangen und man die Einschläge der Raketen hörte, haben wir gesungen und Schokoladenkuchen gegessen. Und doch kehrt danach die Realität zurück: Man schaut aufs Handy, überprüft, ob Freunde und Familie in Sicherheit sind, und trauert um die Opfer der Angriffe.

Was hören Sie aus den Gesprächen mit Schweizern in Israel?

Emily Langloh: Auch die Schweizer in Israel sind Teil dieses Alltags. In solchen Momenten spielt es keine Rolle, woher man kommt – die Bedrohung betrifft alle gleichermassen, ob Israelis, Araber oder Schweizer. Wenn wir gefragt werden, warum wir nicht einfach in die Schweiz zurückkehren, wo es sicherer wäre, lautet die Antwort oft: Weil Israel unser Zuhause ist. Weil es Orte gibt, an denen selbst im Bunker noch Leben, Nähe und Gemeinschaft spürbar sind – etwas, das sich schwer erklären lässt, wenn man es nicht selbst erlebt hat.

Tausende Menschen sind in Israel gestrandet oder können nicht zurückkehren. Wie helfen sich die Menschen?

Die Hilfsbereitschaft ist enorm. Schon nach dem 7. Oktober wurde deutlich, wie schnell sich in Israel solidarische Netzwerke bilden. Auch jetzt unterstützen sich die Menschen gegenseitig, oft ganz selbstverständlich. Wer keinen Schutzraum im eigenen Haus hat, wird bei Freunden oder Nachbarn aufgenommen. Menschen, deren Wohnungen beschädigt wurden, erhalten Kleidung, Haushaltsgegenstände und manchmal sogar Unterkünfte angeboten. Über soziale Netzwerke werden Sachspenden, freie Zimmer oder Mitfahrgelegenheiten vermittelt, oft innerhalb von Minuten. Da viele diese Woche nicht arbeiten, bleibt Zeit, um sich gegenseitig zu besuchen und zu vergewissern, dass niemand allein durch diese Situation gehen muss. Auch um gestrandete Touristen kümmert man sich. Einige reisen in Nachbarländer wie Jordanien oder Ägypten weiter, um von dort einen Rückflug zu organisieren. Ein Bekannter mit amerikanischem Pass ist zum Beispiel gestern über die Grenze nach Ägypten gefahren, um einen Flug von Kairo aus zu nehmen. Trotz aller Belastung und aller politischen Differenzen herrscht ein starkes Gefühl von Zusammenhalt.

Womit rechnen Sie für die nächsten Tage?

Emily Langloh: Sicher sagen kann das natürlich niemand, aber ich gehe davon aus, dass uns diese angespannte Situation noch eine Weile begleiten wird. Vor allem in den Nächten rechnen wir weiterhin mit Raketen- und Drohnenangriffen. Es ist davon auszugehen, dass Schulen weiterhin grösstenteils geschlossen bleiben und auch viele Arbeitsplätze im nicht systemrelevanten Bereich vorübergehend stillgelegt oder ins Homeoffice verlagert werden könnten. Viele, die Reisen oder Sommerurlaub geplant hatten, stellen sich darauf ein, dass der reguläre Flugverkehr noch länger unterbrochen bleibt. Zugleich hoffen wir, dass sich die Lage nicht weiter zuspitzt, dass Israel seine militärischen Ziele erreichen kann und dass auch das iranische Volk vom Ayatollah-Regime befreit wird. Wichtig ist uns, dass bei aller Aufmerksamkeit für die aktuelle Eskalation die Geiseln in Gaza nicht in Vergessenheit geraten. Ihre Rückkehr bleibt für viele von uns ein zentrales Anliegen.

Yves Kugelmann