Tel Aviv 09. Okt 2025

Freudentrubel mit Trauertränen

Befreite Gefangene, Angehörige von Geiseln und ihre Unterstützer feiern nach der Bekanntgabe, dass Israel und die Hamas sich auf die erste Phase des Waffenstillstandsplans für den Gazastreifen…

Für Israeli und Palästinenser bedeutet die Ankündigung des Ende des Kriegs nach zwei Jahren womöglich eine neue Ära.

Nächtlicher Jubel in der Nacht zum Donnerstag in Israel nach der Donald Trumps Ankündigung, Israel und Hamas hätten die erste Stufe eines gemeinsamen Abkommens ausgehandelt: Mit der Freilassung al­ler lebenden Geiseln und der Entlassung von über 2000 verurteil­ten Terroristen aus Israels Ge­fängnissen wie auch einem Rück­zug der israelischen Armee auf bereits ver­einbarte neue Linien am Rande des Gazastreifens. Noch am Vortag war die Trauer der Überle­benden und Angehörigen in den Orten vor dem Gazastreifen zu fühlen. In Gedenkveranstaltungen zum zweiten Jahrestag des Massakers am 7. Oktober 2023, die noch am Vortag mehr Verzweiflung als Hoffnung zum Ausdruck brachten.
Weder die Namenslisten zum Austausch noch die Rückzugslinien für die Armee wurden bislang veröffentlicht. Israels Regierung muss die Unterzeichnung noch bestätigen. Wer in der Hamas derzeit das endgültige Sagen hat, ist sogar noch unklar. Und doch: Der erklärte Wille eines für seine plötzlichen Kehrtwendungen und Zornesausbrüche bekannten US-Präsiden­ten, zusammen mit der Präsenz aller arabischen und muslimi­schen Hamas-För­derer und Patrone (mit Ausnahme Iran) liessen eine auf Zeit spie­lende oder gar ablehnende Antwort nicht zu. Weder Israels Pre­mier noch Hamas-Chefunterhändler Chalil al-Chaja wagten es, sich zu widersetzen.
Plötzlich ist wieder die Rede von einer 72-Stunden-Frist. Wie von Trump angekündigt, sollen die noch lebenden Geiseln „bis Ende der Woche“ oder auch „bis Montag“ aus den Hamas-Kerkern frei­kommen. In den letzten Tagen wurden  in Medienverlautbarungen der Regie­rung diese bislang euphorisch klingenden Zeitangaben im­mer sorgfältig mit dem Zusatz "nach erfolgter Unterzeich­nung" angereichert. Die jetzt vorliegen soll.
Eine Quadratur des Kreises. Hamas,, ideologisch allein auf Krieg ausgerichtet - die unpolitischste aller pa­lästinensischen Gruppierungen - willigt in einen politi­schen Sprung nach vorn ein. Trump hat gesprochen. In den Ohren der Hamas-Ideologen muss der Jubel Trumps wie Hohn klingen. Er redet von den ersten Schritten auf einen "starken, nachhaltigen und dauerhaften Frie­den" hin. Trump verwendet keine der übli­chen Hamas-kompati­blen Begriffe wie Waffenstillstand, Kampf­pause, Waffenruhe oder Kriegsende. Die S-Worte Salam oder Sulch, Frieden und Aussöh­nung, vermeidet Hamas in Bezug auf Israel wie die Pest. Trump perlt „sein“ Frieden von der Zunge, als sei ihm die Problematik des Wortes gar nicht bewusst. Dabei hät­te doch auch ein Waffenstillstand in Gaza Aussichten auf einen Nobelpreis.
Noch hat kein Austausch stattgefunden, noch sind die Geiseln gefangen. Niemand kennt bislang die internationalen Garantien, ohne die Hamas ihre Einwilligung niemals gegeben hätte. Sie wurden bislang von den USA wie auch den nahöstlichen Anrai­nerstaaten verweigert. Denn erst mussten beide Seiten einwilli­gen. Was sie offensichtlich taten.
Wie weit werden sie Israels militärische Handlungsfreiheit im Gaza­streifen beschränken? Kann Israel nach jedem neuen Ge­waltausbruch sofort zurückschlagen – oder muss erst in Wa­shington eine Erlaubnis eingeholt werden?
Aus Jerusalem hiess es zunächst, Premier Netanjahu sei von der Verlautbarung Trumps überrascht gewesen. Etwas später wurde dies abgeändert. Aus Netanjahus Überraschung wurde eine Danksagung an Trump und die enge und ständige Zusammenar­beit zwischen dem Premier und seinen Unterhändlern wurde be­tont.
Die Hamas bestätigte ebenfalls die Unterzeichnung und beliess es bei lakonischen Worten mit der Aufforderung an die Länder der Welt, für „die genaue Einhaltung des Abkommens durch Isra­el“ zu sorgen. Beide Seiten sind sich der Hinfälligkeit ihrer Abma­chungen bewusst und der zahlreichen weiteren Fragen, die offen bleiben und noch zu regeln sind.
Wann genau der anstehende Austausch mit der Freilassung aller lebenden Geiseln stattfinden soll, ist un­klar. Wie auch seine Ab­wicklung: Fängt dieser mit der Freilas­sung der Geiseln an oder beginnt die israelische Armee wieder mit ihrem Rückzug auf neue Linien? Doch der Abzug der drei ersten Bataillone soll schon am Donnerstag begonnen haben. 
Offensichtlich müssen die verbliebenen offenen Punkte nach dem geplanten Austausch noch verhandelt werden. Nach vollzogenem Austausch wäre dies für Israels Unterhändler durchaus eine Opti­on. Für die Hamas aber wäre ein Verhandeln im Nachhinein eine nur unzu­länglich verschleierte Kapitulation. Würde sie sich aber des­halb verweigern, würde Israels Armee die Offensive in Gaza-Stadt fort­setzen. Diesmal mit dem weltweiten Hinweis, dass es die Hamas ist, die ein Abkommen verhindert.
Wie stark ist die Hamas noch? Selbst nach der Mutation von ei­ner paramilitärischen Armeemiliz zum Terrorzellen-Gebilde wie in den Anfangsjahren wird die Organisation nur schwer "voll und ganz" zu zerschla­gen sein. Militärexperten schätzen die dafür not­wendige Zeit­spanne auf 6 bis 18 Monate. Mindestens. Es wäre ein Krieg in den immer noch verbliebenen Hunderten Kilometern Tunnels der Hamas. Unterirdisch. Soweit die angekündigte Ent­waffnung.
Und die Entmachtung der Hamas? Mit der ihr ver­weigerten Teil­nahme an einer neuen Verwaltung im Gazastreifen? Unter Ex­perten gilt auch sie als Schritt mit teilweise fiktivem Cha­rakter. Die Erfahrung zeigt, dass einige Minister im geplan­ten überpar­teilichen Technokraten-Kabinett Verbindungen mit der Hamas ha­ben. Oder von ihr unter Druck gesetzt werden können.
Israels Armee drängte auf Annahme und Einhaltung des Abkom­mens. Sie kämpfte in den letzten Wochen gegen ihren Willen in Gaza-Stadt. Schon jetzt weiss sie kaum, wo sie noch Soldaten rekrutieren kann. Israels Reserve ist am Ende. Die Armee muss sich erholen, tech­nisch und organisatorisch neu aufstellen. Das geht nicht mit Sol­daten, die teilweise schon im Burnout stehen - eine steigen­de Selbstmordrate inklusive.
Ein jahrelanger Krieg lässt sich nur schwer mit einer Gesellschaft durchstehen, deren inneren Konflikte die Hamas vor 7/10 zum Massaker-Angriff verleitete - und die sich seit­dem mit immer neuen Spannungen noch ausweiten.
In einem Staat, dessen soziale wie wirtschaftliche Sicherheit nach zwei Jahren Krieg angeschla­gen sind. Auch Israels innere Si­cherheit ist immer stärker Angriffen ausgesetzt. Durch eine Terrorwelle, die aus dem Westjordanland nach Israel herüber schwappt und immer häu­figer und spürbarer ihren Weg in Israels Inne­re findet.
Mit einer Regierung, die ohne Trump immer noch keine eigene Exit-Strategie vor­weisen könnte. Weder politisch noch militärisch. Wie schwer dieser Regierung die Umsetzung militärischer Erfolge in politische Er­gebnisse fällt, zeigt auch der offen schwelende Konflikt mit dem Iran. Die mit den Mullahs verbündeten Huthi-Milizen beschiessen Israel weiter aus dem Jemen mit Drohnen und Raketen. In Eilat mussten die Be­wohner letzte Woche gleich mehrfach in die Schutzräume ren­nen.
Aber auch direkt aus dem Iran kommen Drohungen. Von der geistlichen wie aus der militärischen Führung. Ihr kriegerisches Motiv könnten die Mullahs in den inneren und sozialen Unruhen im Land sehen. Sie sollen mit einemem Schulterschluss gegen den äusseren Feind beruhigt werden. Israels Ex-Verteidi­gungsminister und derzeitiger Oppositionspolitiker Avigdor Lie­berman warnte öffentlich vor drohenden iranischen Angriffen während des Laubhüttenfestes. Wobei er letzte Woche im Radio­sender Kan nicht ausschloss, dass auch der israelischen Regie­rung eine er­neute Anheizung des Konflikts mit dem Iran politisch gele­gen kommen könne. Der Armeesprecher gab sofort Entwarnung und auch aus der Opposition kamen Vorhaltungen, Lieberman wolle mit solchen vorgreifenden Warnungen nur in die Schlagzei­len.
Soll heissen: Israels Wahlkampf ist bereits im Gange. Als alter Wahlkampffuchs ist Netanjahu sich dessen mehr als be­wusst. Bislang verhinderte sein Verhandlungszaudern erfolgreich die völlige Spaltung seiner Koalition. In den wöchentlichen Wäh­lerumfragen jedoch führte Netanjahus Entscheidungshemmung ihn und seinen Likud in bislang unvor­stellbare statistische Tiefen. Netanjahu stellte sich mit seiner Verzögerungs­politik gegen die Wählermehr­heit. Eine sehr absolute Mehrheit.
So kommt es Netanjahu mehr als gelegen, dass Trump ihn durch 21 Punkte zu einem Kompromiss zwingt. In ers­ten öffentlichen Auftritten hat Netanjahu das Abkommen bereits als "seinen" Erfolg vereinnahmt. So er denn kommen sollte. Er wird versuchen, die widerspenstigen Koa­litionspartner zum Bleiben zu überzeugen. Wobei der sichere Ver­lust an Mandaten und Ministerposten, der allen Koalitionspar­teien droht, einen Erfolg nicht unmöglich machen dürfte. Realisti­scher wäre aber nach Annahme des Trump-Plans (mit Hil­fe der Opposition) der Bruch dieser Koalition – und Neuwahlen. So bald wie möglich im neuen bürgerlichen Jahr 2026.

Norbert Jessen