Für Israeli und Palästinenser bedeutet die Ankündigung des Ende des Kriegs nach zwei Jahren womöglich eine neue Ära.
Nächtlicher Jubel in der Nacht zum Donnerstag in Israel nach der Donald Trumps Ankündigung, Israel und Hamas hätten die erste Stufe eines gemeinsamen Abkommens ausgehandelt: Mit der Freilassung aller lebenden Geiseln und der Entlassung von über 2000 verurteilten Terroristen aus Israels Gefängnissen wie auch einem Rückzug der israelischen Armee auf bereits vereinbarte neue Linien am Rande des Gazastreifens. Noch am Vortag war die Trauer der Überlebenden und Angehörigen in den Orten vor dem Gazastreifen zu fühlen. In Gedenkveranstaltungen zum zweiten Jahrestag des Massakers am 7. Oktober 2023, die noch am Vortag mehr Verzweiflung als Hoffnung zum Ausdruck brachten.
Weder die Namenslisten zum Austausch noch die Rückzugslinien für die Armee wurden bislang veröffentlicht. Israels Regierung muss die Unterzeichnung noch bestätigen. Wer in der Hamas derzeit das endgültige Sagen hat, ist sogar noch unklar. Und doch: Der erklärte Wille eines für seine plötzlichen Kehrtwendungen und Zornesausbrüche bekannten US-Präsidenten, zusammen mit der Präsenz aller arabischen und muslimischen Hamas-Förderer und Patrone (mit Ausnahme Iran) liessen eine auf Zeit spielende oder gar ablehnende Antwort nicht zu. Weder Israels Premier noch Hamas-Chefunterhändler Chalil al-Chaja wagten es, sich zu widersetzen.
Plötzlich ist wieder die Rede von einer 72-Stunden-Frist. Wie von Trump angekündigt, sollen die noch lebenden Geiseln „bis Ende der Woche“ oder auch „bis Montag“ aus den Hamas-Kerkern freikommen. In den letzten Tagen wurden in Medienverlautbarungen der Regierung diese bislang euphorisch klingenden Zeitangaben immer sorgfältig mit dem Zusatz "nach erfolgter Unterzeichnung" angereichert. Die jetzt vorliegen soll.
Eine Quadratur des Kreises. Hamas,, ideologisch allein auf Krieg ausgerichtet - die unpolitischste aller palästinensischen Gruppierungen - willigt in einen politischen Sprung nach vorn ein. Trump hat gesprochen. In den Ohren der Hamas-Ideologen muss der Jubel Trumps wie Hohn klingen. Er redet von den ersten Schritten auf einen "starken, nachhaltigen und dauerhaften Frieden" hin. Trump verwendet keine der üblichen Hamas-kompatiblen Begriffe wie Waffenstillstand, Kampfpause, Waffenruhe oder Kriegsende. Die S-Worte Salam oder Sulch, Frieden und Aussöhnung, vermeidet Hamas in Bezug auf Israel wie die Pest. Trump perlt „sein“ Frieden von der Zunge, als sei ihm die Problematik des Wortes gar nicht bewusst. Dabei hätte doch auch ein Waffenstillstand in Gaza Aussichten auf einen Nobelpreis.
Noch hat kein Austausch stattgefunden, noch sind die Geiseln gefangen. Niemand kennt bislang die internationalen Garantien, ohne die Hamas ihre Einwilligung niemals gegeben hätte. Sie wurden bislang von den USA wie auch den nahöstlichen Anrainerstaaten verweigert. Denn erst mussten beide Seiten einwilligen. Was sie offensichtlich taten.
Wie weit werden sie Israels militärische Handlungsfreiheit im Gazastreifen beschränken? Kann Israel nach jedem neuen Gewaltausbruch sofort zurückschlagen – oder muss erst in Washington eine Erlaubnis eingeholt werden?
Aus Jerusalem hiess es zunächst, Premier Netanjahu sei von der Verlautbarung Trumps überrascht gewesen. Etwas später wurde dies abgeändert. Aus Netanjahus Überraschung wurde eine Danksagung an Trump und die enge und ständige Zusammenarbeit zwischen dem Premier und seinen Unterhändlern wurde betont.
Die Hamas bestätigte ebenfalls die Unterzeichnung und beliess es bei lakonischen Worten mit der Aufforderung an die Länder der Welt, für „die genaue Einhaltung des Abkommens durch Israel“ zu sorgen. Beide Seiten sind sich der Hinfälligkeit ihrer Abmachungen bewusst und der zahlreichen weiteren Fragen, die offen bleiben und noch zu regeln sind.
Wann genau der anstehende Austausch mit der Freilassung aller lebenden Geiseln stattfinden soll, ist unklar. Wie auch seine Abwicklung: Fängt dieser mit der Freilassung der Geiseln an oder beginnt die israelische Armee wieder mit ihrem Rückzug auf neue Linien? Doch der Abzug der drei ersten Bataillone soll schon am Donnerstag begonnen haben.
Offensichtlich müssen die verbliebenen offenen Punkte nach dem geplanten Austausch noch verhandelt werden. Nach vollzogenem Austausch wäre dies für Israels Unterhändler durchaus eine Option. Für die Hamas aber wäre ein Verhandeln im Nachhinein eine nur unzulänglich verschleierte Kapitulation. Würde sie sich aber deshalb verweigern, würde Israels Armee die Offensive in Gaza-Stadt fortsetzen. Diesmal mit dem weltweiten Hinweis, dass es die Hamas ist, die ein Abkommen verhindert.
Wie stark ist die Hamas noch? Selbst nach der Mutation von einer paramilitärischen Armeemiliz zum Terrorzellen-Gebilde wie in den Anfangsjahren wird die Organisation nur schwer "voll und ganz" zu zerschlagen sein. Militärexperten schätzen die dafür notwendige Zeitspanne auf 6 bis 18 Monate. Mindestens. Es wäre ein Krieg in den immer noch verbliebenen Hunderten Kilometern Tunnels der Hamas. Unterirdisch. Soweit die angekündigte Entwaffnung.
Und die Entmachtung der Hamas? Mit der ihr verweigerten Teilnahme an einer neuen Verwaltung im Gazastreifen? Unter Experten gilt auch sie als Schritt mit teilweise fiktivem Charakter. Die Erfahrung zeigt, dass einige Minister im geplanten überparteilichen Technokraten-Kabinett Verbindungen mit der Hamas haben. Oder von ihr unter Druck gesetzt werden können.
Israels Armee drängte auf Annahme und Einhaltung des Abkommens. Sie kämpfte in den letzten Wochen gegen ihren Willen in Gaza-Stadt. Schon jetzt weiss sie kaum, wo sie noch Soldaten rekrutieren kann. Israels Reserve ist am Ende. Die Armee muss sich erholen, technisch und organisatorisch neu aufstellen. Das geht nicht mit Soldaten, die teilweise schon im Burnout stehen - eine steigende Selbstmordrate inklusive.
Ein jahrelanger Krieg lässt sich nur schwer mit einer Gesellschaft durchstehen, deren inneren Konflikte die Hamas vor 7/10 zum Massaker-Angriff verleitete - und die sich seitdem mit immer neuen Spannungen noch ausweiten.
In einem Staat, dessen soziale wie wirtschaftliche Sicherheit nach zwei Jahren Krieg angeschlagen sind. Auch Israels innere Sicherheit ist immer stärker Angriffen ausgesetzt. Durch eine Terrorwelle, die aus dem Westjordanland nach Israel herüber schwappt und immer häufiger und spürbarer ihren Weg in Israels Innere findet.
Mit einer Regierung, die ohne Trump immer noch keine eigene Exit-Strategie vorweisen könnte. Weder politisch noch militärisch. Wie schwer dieser Regierung die Umsetzung militärischer Erfolge in politische Ergebnisse fällt, zeigt auch der offen schwelende Konflikt mit dem Iran. Die mit den Mullahs verbündeten Huthi-Milizen beschiessen Israel weiter aus dem Jemen mit Drohnen und Raketen. In Eilat mussten die Bewohner letzte Woche gleich mehrfach in die Schutzräume rennen.
Aber auch direkt aus dem Iran kommen Drohungen. Von der geistlichen wie aus der militärischen Führung. Ihr kriegerisches Motiv könnten die Mullahs in den inneren und sozialen Unruhen im Land sehen. Sie sollen mit einemem Schulterschluss gegen den äusseren Feind beruhigt werden. Israels Ex-Verteidigungsminister und derzeitiger Oppositionspolitiker Avigdor Lieberman warnte öffentlich vor drohenden iranischen Angriffen während des Laubhüttenfestes. Wobei er letzte Woche im Radiosender Kan nicht ausschloss, dass auch der israelischen Regierung eine erneute Anheizung des Konflikts mit dem Iran politisch gelegen kommen könne. Der Armeesprecher gab sofort Entwarnung und auch aus der Opposition kamen Vorhaltungen, Lieberman wolle mit solchen vorgreifenden Warnungen nur in die Schlagzeilen.
Soll heissen: Israels Wahlkampf ist bereits im Gange. Als alter Wahlkampffuchs ist Netanjahu sich dessen mehr als bewusst. Bislang verhinderte sein Verhandlungszaudern erfolgreich die völlige Spaltung seiner Koalition. In den wöchentlichen Wählerumfragen jedoch führte Netanjahus Entscheidungshemmung ihn und seinen Likud in bislang unvorstellbare statistische Tiefen. Netanjahu stellte sich mit seiner Verzögerungspolitik gegen die Wählermehrheit. Eine sehr absolute Mehrheit.
So kommt es Netanjahu mehr als gelegen, dass Trump ihn durch 21 Punkte zu einem Kompromiss zwingt. In ersten öffentlichen Auftritten hat Netanjahu das Abkommen bereits als "seinen" Erfolg vereinnahmt. So er denn kommen sollte. Er wird versuchen, die widerspenstigen Koalitionspartner zum Bleiben zu überzeugen. Wobei der sichere Verlust an Mandaten und Ministerposten, der allen Koalitionsparteien droht, einen Erfolg nicht unmöglich machen dürfte. Realistischer wäre aber nach Annahme des Trump-Plans (mit Hilfe der Opposition) der Bruch dieser Koalition – und Neuwahlen. So bald wie möglich im neuen bürgerlichen Jahr 2026.