Gaza-Krieg 01. Okt 2024

«Die Liquidierung Nasrallahs ändert Lage grundlegend»

Menschen laufen neben Zeitungsberichten die den Tod von Nasrallah beschreiben vorbei im Libanon. 

Analyse des Sicherheitsexperten Bruce Hoffman – Warnung vor einer Bodeninvasion im Libanon.

Am Wochenende hat Bruce Hoffman beim «Council on Foreign Relations» eine fundierte und bündige Lageanalyse nach der Liquidierung von Hassan Nasrallahs durch Israel vorgelegt. Demnach war dies ein vernichtender Schlag, der die Region grundlegend verändert. Israel habe zuvor systematisch den Grossteil der militärischen Führung der Hisbollah eliminiert, insgesamt Dutzende von Kommandeuren. «Zusammen mit Israels Sabotage-Detonation von Tausenden von Pagern und Walkie-Talkies… ist die Gruppe wahrscheinlich operativ handlungsunfähig geworden – zumindest auf absehbare Zeit. …Tatsächlich gibt es keine klaren Nachfolger für Nasrallah, da er an der Spitze der Bewegung eine einzigartige und unübertroffene Stellung einnimmt.»

Nassralahs Nachfolger Sayed Naim Qassem sei ausserhalb des Libanon weniger bekannt und habe in der Hisbollah die Abteilung für religiöse Bildung geleitet: «Qassem fehlt daher wohl Nasrallahs militärischer und strategischer Scharfsinn und sein politisches Geschick. …Der einzige noch lebende hochrangige Hisbollah-Offizier ist der weitgehend unbekannte Abu Ali Rida, der Kommandeur der Eliteeinheit Bader.» Die Hisbollah verfügt laut Hoffman weiterhin über ein Arsenal von geschätzten 150.000 Raketen und Geschossen, dazu angeblich über 100.000 Kämpfer. Aber diese Zahl dürfte in Wirklichkeit etwa ein Fünftel davon betragen. Doch die «Enthauptung der Führung, die Kompromittierung der Kommunikation und die Infiltration durch den israelischen Geheimdienst» mache eine Mobilisierung dieser Potentiale vorerst unmöglich.

Hoffman beschreibt Nasrallah als «die herausragende Figur in der libanesischen und regionalen Politik. Während seiner 32 Jahre als Führer der Hisbollah steuerte er die bemerkenswerte Entwicklung der Organisation von einer Terrorgruppe zur Widerstandsbewegung und schliesslich zur gewaltigsten politischen und militärischen Kraft des Libanon – und der Levante ». Nasrallah habe ohne Zweifel über ein Charisma als kraftvoller Redner, immense organisatorische Fähigkeiten, eine Vision, Bescheidenheit und Frömmigkeit verfügt: «Und anders als viele Terroristenführer, die die Söhne anderer Leute in den Tod schicken, zahlte Nasrallah selbst den höchsten Preis, als sein 18-jähriger Sohn Hadi 1997 im Kampf gegen Israel fiel.»

Eine wichtige Leistung Nasrallahs sei die Verstrickung Israels in einen nervenaufreibenden Kleinkrieg nach 18 Jahren Besetzung gewesen, der im Mai 2000 zum einseitigen Abzug der israelischen Streitkräfte aus dem Südlibanon führte: «Danach verdrängte die Hisbollah die libanesische Armee als einzige effektive Militärmacht des Landes. Darüber hinaus festigte sich Nasrallahs Autorität und Beliebtheit bei den meisten Libanesen – Sunniten, Christen und Schiiten gleichermassen.» Nasrallah habe zudem die Metamorphose der Hisbollah zu einem enorm leistungsfähigen, sozialen Netzwerk mit Krankenhäuser, Kliniken und Schulen sowie landwirtschaftliche Zentren und andere Ausbildungsstätten ins Werk gesetzt und damit den libanesischen Staat übertroffen: «Die Hisbollah wurde so zu einem `Staat im Staat´ und nach 2005 zur einflussreichsten politischen Einheit im Libanon.» 

Mit Blick auf Iran erklärt der renommierte Sicherheitsexperte, die Islamische Republik habe praktisch «tatenlos zugesehen, wie sein wichtigster und mächtigster Stellvertreter in der Region von Israel degradiert, entmachtet und gedemütigt wurde.» Iran sei konventionell «militärisch systemisch schwach und daher auf Stellvertreter wie die Hisbollah, die Hamas und dieHuthis im Jemen angewiesen und sei deshalb nun «kaum in der Lage ist, Israel ernsthaft zu bedrohen.»

Hoffman lehnt längerfristige Vorhersagen ab und stellt nüchtern fest, die Lage habe sich nun grundlegend zugunsten Israels geändert. Der jüdische Staat habe «eindeutig die Abschreckungsfähigkeit zurückgewonnen, die er am 7. Oktober 2023 so dramatisch verloren hat. Seine Geheimdienste, die durch diese beispiellose Tragödie in Verruf geraten waren, haben ihren Ruf für taktische und strategische Scharfsinnigkeit und vermeintliche Allwissenheit zurückgewonnen. Und die israelischen Streitkräfte haben ihre berühmte Fähigkeit zurückgewonnen, entschlossen auf der Grundlage von Geheimdienstinformationen zu handeln und den operativen Kreislauf zwischen Sammlung, Analyse und Aufgabenerteilung mit dem Einsatz überwältigender kinetischer Macht zu schliessen.»

Bemerkenswert ist jedoch auch die Warnung des Professors an der Georgetown University vor einer erneuten, «potenziell langwierigen und lähmenden Bodenoffensive im Libanon… Neben der Rettung von Zivilistenleben und der weiteren Schädigung der bereits fragilen Wirtschaft und Infrastruktur des Libanon … würde Netanjahu, was entscheidend ist, auch wahrscheinliche Verluste der israelischen Streitkräfte und eine erneute Verstrickung in langwierige Kämpfe vermeiden» (Link). Diese Warnung ist bei Netanyahu offenkundig nicht angekommen.

Andreas Mink