Telegramm aus dem Krieg 27. Okt 2023

Der Krieg und die Tiere

Geschichten von Menschen im Krisengebiet in Israel, an der Front und aus der Zivilgesellschaft. In dieser neuen tachles-Kolumne porträtiert die Autorin Menschen im Krisengebiet. Heute Reut Reshef in Kiriat Gat.

Reut Reshef ist Aktivistin für gefährdete Tiere. Von ihrer Wohnung  bis zum Zentrum von Kiriat Gat an der Grenze zu Gaza dauert es etwa eine halbe Stunde. Mit dem Auto, sagt sie. Auch Haustiere, Hunde und Katzen irren zwischen der Nord- und der Südgrenze des Landes umher. Sie verirren sich zwischen den Schrecken, die von Menschen verübt werden. Sie überqueren die südliche Grenze zwischen Gaza und Israel und seit einigen Tagen auch die nördliche Grenze zwischen dem Libanon und Israel und die Golanhöhen.  Sie laufen zwischen den Trümmern, zwischen den lebenden Menschen, zwischen den Überresten von zerstörten Leben, zwischen den Waffen, die vor dem Stacheldraht stehen und suchen nach Zuflucht und Nahrung, Tage und Nächte lang, verängstigt durch die Gewalt und Grausamkeit der Menschen.  Reut leitete vor dem 7. Oktober Projekte zur Wiedereingliederung gefährdeter Jugendlicher.  Eine Nachricht in den sozialen Netzwerken über einen Hund, der während der Massaker in den Gemeinden im Süden Israels gefangen war, erregte ihre Aufmerksamkeit. "Ich wusste, dass wir in Israel ein Problem mit Haustieren haben, genau wie bei Ihnen in Europa. Das Aussetzen von Hunden und anderen Tieren ist eine internationale Plage. Die Tiere haben keine Pässe. Sie sind weder Israelis, noch Palästinenser, noch Deutsche, noch Franzosen, sie sind einfach in jeder Unmenschlichkeit gefangen", sagt sie und streichelt Socks, den kleinen, zerzausten, grauen Vierbeiner, der sich an sie schmiegt. In der Nacht zum 8. Oktober antwortete sie auf die Nachricht und bot ihre Hilfe bei der Suche nach einer Adoptionsfamilie an. Innerhalb weniger Stunden wurden ihr Handy und ihr Profil in den sozialen Netzwerken mit Dutzenden neuer Hilferufe überschwemmt.  Dann folgten Hunderte von Anrufen.  In der Nacht zum 8. Oktober beschloss sie auch mit einem Partner, den sie über soziale Netzwerke kennengelernt hatte, ein Hilfsportal für gefährdete Haustiere aus dem Süden des Landes einzurichten.  Eine Welle der nationalen Solidarität wurde ausgelöst. Aber die Begeisterung musste kanalisiert werden: "Die Leute setzten sich in ihre Autos und fuhren in den Süden, obwohl wir wussten, dass es dort noch Terroristen gab. Sie fuhren, um ihre Kinder zu befreien, dann Hunde, Katzen, Esel und sogar Vögel, die in den Bunkern oder Kellern eingesperrt waren, die nach der Ermordung ihrer Besitzer zurückgelassen worden waren oder weil die Menschen in den Tagen nach dem 7. Oktober geflohen waren. Um wirklich helfen zu können, sagte sie, seien Ordnung und einfache Protokolle erforderlich, die unnötige Wartezeiten verkürzen. Das Gegenteil der bestehenden Verwaltung.  "Die Grundregel ist einfach, so viele Tiere wie möglich zu retten und dabei die Gefahren für die Retter so gering wie möglich zu halten."Reut baut daher eine Datenbank auf, mit Fragen, die sie bei jeder Anfrage und jedem Anruf verschickt: "Um welches Tier handelt es sich, hat es einen Chip, wurde es geimpft, wann wurde es das letzte Mal gesehen?"  Die Retter, um die zwanzig, fuhren durch Gebiete, die schnell als militärisches Kampfgebiet ausgewiesen wurden. In einigen Fällen waren sie bewaffnet, in den meisten Fällen trugen sie nicht einmal kugelsichere Westen. Reut lächelt und erklärt: "Wir haben sehr schnell verstanden, dass Tiere für viele der überlebenden Familien und ihre Kinder von großer Bedeutung sind, um das erlittene und noch zu erwartende Leid zu ertragen".  Sie erinnert sich an die beiden Geschwister, die aus einem Kibbuz im Süden des Landes in behelfsmäßigen Hotels im Zentrum des Landes untergebracht worden waren und vor Freude weinten, als sie ihre beiden geliebten Hunde wieder in die Arme schließen konnten. 800 Tiere wurden von der Hilfsgruppe von Reut Reshef gerettet. In weniger als 10 Tagen. „Es gibt immer noch Tiere im Gelände", sagt sie, "aber jetzt ist es unmöglich, in den Süden zu gelangen. Das Gebiet ist nun militärisches Sperrgebiet und für Zivilisten unzugänglich.“

Die beiden Hunde von Reut heulen plötzlich wie um ihr Leben. Die Sirenen kündigen einen neuen Raketenangriff an. Reut schiebt ihren Freund, seine Mutter, und die Besucherin in den Bunker, der ihr Büro ist. Um ihre beiden verängstigten Hunde zu beruhigen, breitet sie eine Decke aus und gibt ihnen Leckerlis. Und spricht mit ihnen, sanft und zärtlich. Reut hatte keine Zeit, Angst zu haben, es gab zu viel zu tun. Aber vor drei Tagen brach sie zusammen, körperlich, für ein paar Stunden: "Als mir klar wurde, dass die Nordfront mit der Hizbollah in Flammen stand und fast 30'000 Israelis ihre Häuser im Norden des Landes verlassen mussten, um ins Zentrum des Landes zu gelangen." Zwei Fronten zu verwalten, um Tiere zu retten, erschien ihr für einige Stunden unmöglich. "Aber wir haben aus der Krise im Süden gelernt. Wir haben Nachrichten und Anweisungen an unsere Freiwilligen vor Ort geschickt, damit sie den Flüchtlingen aus dem Norden, die sich ins Zentrum des Landes zurückgezogen haben, so gut wie möglich helfen können. Reut ist besorgt, dass Dutzende von Tieren die nördliche Grenze überqueren. Dort im Südlibanon wissen wir, dass es viele Fälle von Tollwut gibt. Das ist weder eine Metapher noch ein Zufall", sagt sie, "nur eine weitere tragische Folge des Krieges“.

 

 

Anna-Patricia Kahn