Telegramm aus dem Krieg 25. Okt 2023

Alle Leben retten

Ido Rosenblatt (links) war als israelische Rettungskraft am 7. Oktober im Einsatz. 

Ido Rosenblatt ist wirklich kein «Schvitser». In Jiddisch, der Sprache seiner Vorfahren, beschreibt dieses Wort eine arrogante Person, die bereit ist, ihre Paradekleidung zu tragen, auch wenn sie dabei den Hitzetod riskiert.

Ido trägt die blau-weisse Uniform der paramedizinischen Teams von Magen David Adom. Er ist Leiter der Abteilung für fortgeschrittene Technologie im Hauptquartier des israelischen nationalen medizinischen Notfalldienstes, der mit Krankenwagen, Motorrollern, Hubschraubern und einer Blutbank im Katastrophenfall arbeitet. Sein Name bedeutet «Roter Schild» oder «Roter Davidstern».  

Seit Juni 2006 ist Magen David Adom offiziell vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) gemäss den Genfer Konventionen anerkannt und Mitglied der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften.

Ido ist wirklich kein Angeber. Seinen Stolz kann er aber nicht verbergen, auf die technologischen Fortschritte, die speziell für den nationalen Notdienst entwickelt wurden. «Seit mehr als fünf Jahren denken wir darüber nach, wie wir die Zeit für die Versorgung von Verletzten, Opfern von Anschlägen oder Kranken in Notsituationen verkürzen können. Die Rettung von Leben beginnt, sobald das Tele-fon klingelt. Die Minuten nach dem Anruf sind entscheidend, um so viele Menschen wie möglich un-ter den bestmöglichen Bedingungen zu retten».

Zum Beweis wählt Rosenblatt die Notrufnummer von Magen David Adom (MADA) und auf den riesi-gen Computern blinken innerhalb einer Sekunde grüne und rote Lichter auf. Die Zeit wird mit einem Chronometer gemessen. Eine Frauenstimme antwortet sofort auf Idos Anruf: «Test», antwortet er der Rettungssanitäterin am anderen Ende der Leitung. Der Test war erfolgreich.
«Wir haben uns jahrelang mit unseren Kollegen und Kolleginnen auf der ganzen Welt getroffen und versucht, herauszufinden, wie wir am effektivsten arbeiten können. Die Antwort war klar: Wir mussten künstliche Intelligenz einsetzen und Programme entwickeln, die auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten sind. Die speziell entwickelten Programme liefern in Rekordzeit alle notwendigen Informationen für die Erstversorgung mit einer Fehlerquote von nur 0,05 Prozent.»

Ido schlief sehr gut am frühen Morgen des 7. Oktobers, den die Israelis inzwischen als schwarzen Samstag bezeichnen. «Die ersten zehn Minuten waren wir nur überrascht. Es gab keinen Frühalarm und auch keine Warnsignale.» 
Aber Ido erinnerte sich an die Erzählungen über den Jom-Kippur-Krieg. Die Angriffe kamen von allen Fronten und deuteten auf ein grösseres Ereignis hin. 
An diesem Samstagmorgen beschloss Ido, der religiös ist, sich sofort zum Hauptquartier des MADA zu begeben. 

«Wir haben unsere Nachtschicht vor Ort gehalten. Sie unterstützten die Tagschicht. Anstelle der 5400 Notrufe, die MADA an einem normalen Schabbat erhält, gingen an diesem Samstag bis zu 21’600 Anrufe in der Zentrale ein.»

Die Paramedics, die vor Ort arbeiteten, schickten kurze Videos und Ido zeigt die Bilder, die von Überwachungskameras oder seinen Kollegen aufgenommen wurden. Auf ihnen sieht man, wie bis an die Zähne bewaffnete Terroristen in die Dörfer eindringen und zuerst auf Reifen und Fenster-scheiben von Krankenwagen schiessen. «Die Rettung von Zivilisten unmöglich machen. Töten, aus-rotten, das ist es, was sie getan haben. Drei Paramedics fielen unter den Kugeln der Hamas. Sie schossen auf die Hände eines Fahrers und richteten Krankenpfleger hin.» Er erinnert daran, dass die Teams unbewaffnet sind. 
Das Stimmengewirr von 60 Frauen und Männern in der Kommandozentrale in Qiriat Ono hört abrupt auf, eine künstliche Stimme brüllt «Roter Alarm, roter Alarm». Eine Rakete droht, in den Aussenbezirken von Haifa einzuschlagen. Eine angespannte Stille herrscht. Die von der Polizei und den Krankenpflegern vor Ort gesammelten Echtzeitinformationen werden in den nächsten Sekunden bekannt gegeben: Iron Dome konnte dieses Mal die Rakete abfangen. Zum Glück gibt es keine Opfer und keine Sachschäden. Dieser eine Vorfall ist abgeschlossen.
Bei Magen David Adom arbeiten Frauen und Männer, religiöse und nichtreligiöse Juden, Araber und Druzen zusammen, denn, merkt Ido an: «Unsere Mission ist einfach: Wir sind hier, um Leben zu retten.  Ein ausreichender und notwendiger Grund für unsere Existenz.»

Yussef Khurdi, 30 Jahre alt, ist ein israelisch-arabischer Krankenpfleger aus Jaffa. Seine ganze Familie unterstützt den jungen Mann, der der erste war, der an den Schauplätzen der Dizengoff-Anschläge im letzten Frühjahr eintraf. Manchmal hat er natürlich das Gefühl, dass er von einigen Menschen in diesem Land, seinem Land, komisch angesehen wird. Aber jedes Mal, wenn ein Leben gerettet wird, fasst er neuen Mut und tut das, was er über alles liebt. Auf der Seite des Lebens zu sein.
 

Anna-Patricia Kahn