das jüdische logbuch 27. Jan 2023

Weichenstellungen fürs Judentum

Tel Aviv, Januar 2023. Alles wie immer – und doch nicht. Denn erstmals seit Israels Staatsgründung ist die Möglichkeit real geworden, dass Israel nicht die blühende, einzige Demokratie im Nahen Osten bleiben, sondern diese Schritt für Schritt abgeschafft wird von einer rechtsextremen Regierung. Was viele nicht auszusprechen wagten, wovor wenige andere warnten, ist jetzt wenige Schritte vor der Umsetzung. Für Israel gilt allerdings, dass alles anders kommen, das Unheil abgewendet werden könnte. Allerdings sitzt da nicht der Premierminister im Cockpit, sondern die Geister, die er gerufen hat: Rassisten, Faschisten, religiöse Fanatiker.

Auf den Strassen kehren die Menschen am Samstagabend von der Protestkundgebung zurück. Junge Menschen – aber nicht nur (vgl. Seite 18). Für sie geht es um nichts weniger als die Erhaltung der Demokratie. Eine Demokratie auf Abwegen, mit der untrennbar verbunden sein wird, wie sich Judentum entwickeln wird. Die Frage ist nicht mehr, was ein jüdischer Staat ist, wie jüdisch und demokratisch zusammengehen, sondern: Was wird Judentum sein, wenn Israel theokratischer, autokratischer wird, wenn nicht mehr demokratische Gesetzgeber und Gerichte über Gesetze entscheiden werden, wenn der mehrheitsfähige jüdische Wertekatalog aufgegeben wird, wenn Israel die Frage «Wer ist jüdisch?» zur politischen, nationalistischen macht?

Die besorgten Menschen in Israel sind in der Minderheit – sonst wären die Wahlen nicht so ausgefallen. Doch mulmig ist inzwischen auch einigen anderen geworden. Doch noch nicht so mulmig, dass sich Millionen auf Israels Strassen vereinen. Israel ist schon jetzt nicht mehr, was es war, auch wenn der grosse Einschnitt, die Abschaffung der Gewaltenteilung mit all ihren Konsequenzen noch nicht eingetreten ist. Doch erstmals ist das nur noch wenige Abstimmungen in der Knesset entfernt. Dann würden sich die Wege von Israel und Juden trennen. Der quirlige Taxifahrer in Jerusalem am nächsten Tag hat gute Laune. Erzählt von seinen Enkeln, von der Familie. Zur Politik kein Wort. Er ist in Jerusalem geboren, stammt aus einer arabischen Familie und versprüht eine Freude, die tags zuvor in Tel Aviv nicht zu spüren gewesen war. Beim Abschied sagt er dann doch: «Hie tov» – «alles wird gut».

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann