das jüdische logbuch 19. Mai 2023

Vorwärts in die Vergangenheit

Genf, Mai 2023. Ideal und Wirklichkeit sind immer so eine Sache. Das Modell Delegiertenversammlung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) ist seit Jahren ein Auslaufmodell und bis vor der Pandemie immer wieder diskutiert worden. Am letzten Sonntag zeigte sich, dass die Begegnung von Menschen zwar wunderbar ist – aber nicht so. Vom Quorum der Delegierten waren rund drei Viertel vor Ort. Delegationen beklagen, dass die Rekrutierung schwierig sei. Bei der Nachmittagsveranstaltung mit Bundesrat und Kantonsvertretungen, waren nur noch rund zwei Drittel der Delegierten und kaum weiteres Publikum aus der jüdischen Gemeinschaft anwesend. Ein Riesenaufwand für weniger als 100 Menschen. Der äussere Anlass für die Kritik vor allem aus der Basis der Romandie-Gemeinden waren die Finanzen. Über zwei Millionen Franken Verlust beim SIG, während allerdings die Schwesterorganisation Verband der Jüdischen Fürsorgen der Schweiz eine erfolgreiche Kapitalstrategie und gute Zahlen präsentierte und für das Engagement im Flüchtlingswesen gelobt wurde; sie erlässt den Gemeinden einen Teil der Mitgliederbeiträge. Anders der Dachverband: Er verstrickt sich in eine seltsame Argumentationslogik, wenn Präsident Ralph Lewin Gemeinden vorwirft, dass sie mit Mitgliederbeiträgen nur ein Viertel an die Kosten des SIG beitragen und Diskussionsbedarf von Gemeinden ins Centralcomité delegiert und gleichsam ein abgenommenes Budget präsentiert, dass an der DV nicht mehr verhandelt werden kann. All das zeigt: Die SIG-Strukturen, die die selbstgestellten Aufgaben, die Abläufe und die Diskussionskulturen stammen aus einer längst vergangenen Zeit. Die SIG-GL lebt in einer Art Parallelwelt, die wenig mit dem Alltag jüdischen Lebens und Anforderungen in den Gemeinden zu tun hat. Gemeinden, die finanziell erdrückt werden und vom SIG kaum Hilfe erhalten, aber zuschauen müssen, wie dieser in eben diesen Parallelwelten Projekte zu unternehmen versucht, die andere Organisationen zum Teil schon gleich oder besser bewältigen. Es ist nicht die erste SIG-GL, die die Rufe der Gemeinden nicht hört. Wie viele Studien nach GL-Touren bei Gemeinden landeten schon in den Schubladen. Doch nun sind die Zeiten anders und der finanzielle Druck zu gross. Die GL geht auf Fundraisingtour und konkurrenziert die jüdische Schweiz, während Gemeinden Sanierungsprogramme auf die Beine stellen. Ein Delegierter brachte es nach der DV auf den Punkt: «Der SIG der Romandie ist die CICAD. Der Dachverband ist letztlich eine zu teure Zürcher Organisation, die sich selbst vertritt.» Zumindest Ralph Lewin hatte den Galgenhumor nicht verloren. Angesprochen auf sein geschwollenes Auge erwähnte er in der Eröffnungsrede, dass dieses nicht von den Disputen nach der massiven Kritik am SIG durch tachles stamme. Ob Lewin und die GL allerdings mit einem blauen Auge davon gekommen sind, bleibt offen. Wenn sich die finanzielle Situation verbessert, wird wohl die Kritik im DV-Protokoll verewigt, aber nicht behandelt bleiben. Dass der SIG programmatisch und funktional die Basis zu grossen Teilen verloren hat, zeigte am letzten Sonntag ein Blick in den Saal. Eine Zukunftsstiftung ohne Zukunft, eine Mahnmaldiskussion von gestern und ritualisiertes Nicht-Diskutieren ist nichts mehr für die nächste Generation. Die Wahl des über 80-jährigen, hochehrwürdigen und wohlverdienten Rolf Halonbrenner in die GL fasst die Situation des Dachverbands bestens zusammen.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann