Berlin, November 2024. Das raue Klima in der Stadt ist nicht nur dem kalten Ostwind geschuldet. Der Zerfall der Ampel-Koalition, die vorgezogenen Neuwahlen sorgen in Berlins Hinterzimmern für strategische Positionierungen und kleinkrämerischem Hickhack, während die globalen Probleme drängen. Auch in der lokalen und nationalen Kulturpolitik. Kürzungen stehen überall an in einem ohnehin aufgeheizten Klima. An diesem frostigen Mittwoch verschärft sich die Debatte um eine Retrospektive der New Yorker Fotografin Nan Goldin. Natürlich geht’s wieder mal um die Nahost-Kriege und die seit langem bekannte Kritik Goldins an der israelischen Besatzungs- und Kriegspolitik. Was Ausgangspunkt für eine inhaltlich Debatte sein könnte, artet im Deutschland der Staatsräson regelmässig zum verhärteten Stellvertreterkrieg zwischen allerlei skurrilen und anderen Fraktionen mit heftigsten Anschuldigungen aus. Die Grenzen werden immer enger gezogen und die Grenzüberschreitungen damit immer grösser und Worte immer schärfer. Israel-Kritiker inflationieren den Genozid-Vorwurf bis zur Unkenntlichkeit, Israels Regierung schmeisst mit Pogrom- und Antisemitismus-Vorwürfen um sich. Die Sinnentleerung der nur noch an der Oberfläche geführten Diskurse findet auf dem Buckel eines Konflikts statt, an dem Millionen in Israel, Libanon, Gaza tagtäglich leiden, und mündet ausserhalb der Konfliktzone in stark ideologisierte Anfeindungen, die die Auseinandersetzung mit dem richtigeren, besseren, wahreren Argument schon gar nicht mehr zulässt. Da schafft die Ausstellung «Was ist Aufklärung?» eine hilfreiche Neujustierung von Perspektiven. Das Deutsche Historische Museum taucht ein in die Anfänge der Aufklärung, zeigt die verschiedenen Zugänge aus Deutschland, Frankreich, England auf mit all ihren Ambivalenzen, Widersprüchen und Fortschrittsdiskursen. Bei allem Rückblick wird rasch klar, weshalb die aktuellen Debatten von der Frage der Aufklärung nicht mehr zu lösen sind, gerade bei der Frage nach der Religion, der Entstehung des modernen Individuums, der Entstehung von Menschen- und Bürgerrechten und dann im Kontrast dem Umgang mit Sklaven, Frauen oder etwa Kunst und Freiheit. Da prallt viel Theorie und Praxis aufeinander und die Erkenntnis wird geschärft, wie unmittelbar aktuelle politische Debatten letztlich die Grundfragen der Aufklärung neu verhandeln – ohne dass dies je benannt würde. Die Aufklärung war die Befreiung vom Absoluten und hat das Relative etabliert, also die Möglichkeit der offenen Zugänge, der Falsifikation durch Empirie, die wiederum selbst immer wieder neu zur Disposition gestellt wird. Fortschritt, Freiheit, das Recht auf Ungleichheit und Gleichberechtigung in der Abkehr von absoluten religiösen, monarchischen oder ideologischen Dikta stehen heute allenthalben zur Disposition, auch in sogenannten freien und offenen Gesellschaften. Die Religionen finden den Weg zurück in die Politik, die Oligarchisierung von Macht ebenso, die Gewaltenteilung wird verwässert. Und da steht man vor der Nationalgalerie und wünscht sich, dass der Konflikt um Israel und Palästina von den Menschen in der Region heraus betrachtet und verhandelt wird mit Blick auf Lösungen und nicht Komplizen der einen oder anderen Fraktion.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
22. Nov 2024
Von Pogrom und Genozid
Yves Kugelmann