das jüdische logbuch 20. Jan 2023

Ungleichung mit drei Unbekannten

Zürich, Januar 2023. Die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz ist klein, die jüdische Zivilgesellschaft verhältnismässig gross. Dutzende von Institutionen machen den jüdischen Alltag aus, darunter in der Schweiz jüdische Kinderbetreuungsinstitutionen, jüdische Schulen oder jüdische Altersheime. Systemrelevante Institutionen. An diesem sonnigen Morgen erwacht im Altersheim Sikna das Leben – wie jeden Tag. Betreuerinnen und Betreuer bringen die älteren Menschen im Eingangsbereich zusammen oder holen sie zum wöchentlichen Kulturprogramm. Mit viel Geduld treten sie auf die Wünsche der betagten Menschen ein, die zum Teil aus Zürich stammen oder mit anderen Geschichten an der Limmatstadt eine Heimat fanden. Das zeigt sich an diesem Morgen rasch in der Vielfalt der Sprachen von Dialekt, Englisch bis Jiddisch und Hebräisch. Ein lebendiger Alltag, gelebtes Judentum wie dann auch später am Tag in der Jüdischen Schule Noam auf dem Pausenplatz zu sehen und in tachles wöchentlich geschildert ist. Ein Alltag, den die jüdische Gemeinschaft weitgehend abseits der jüdischen Gemeinden ermöglicht, gestaltet und finanziert. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) hat daran keinen Anteil. Er hat sich nie um jüdische Altersheime oder jüdische Schulen gekümmert, geschweige denn solche finanziert. Der Erlös von rund 16 Millionen Franken aus dem Verkauf des Altersheims Berges du Leman vor rund zehn Jahren, das operativ nicht vom SIG geführt wurde, macht heute einen Grossteil des Vermögens des Dachverbands aus. Das Geld floss nicht zu jüdischen Altersheimen, nicht in jüdische Schulen oder Kindergärten. Die mussten schon selbst Förderungen und Spenden generieren. Das tun sie erfolgreich seit Jahrzehnten. Rund 20 Millionen (siehe Artikel S. 12) Förderungen und Spenden aus jüdischen und nicht jüdischen Stiftungen, Nachlässen, Spenden ist alleine für jüdische Schulen, Kindergärten, Kinderhorte, Altersheime, Bildungsinstitutionen nötig, hinzu kommen soziale Hilfsorganisationen. Jüdische Bildung, Altersvorsorge für jüdische Menschen, soziale Hilfe ist nicht die Sache des SIG – er hat sich bisher nie darum gekümmert, geschweige denn als Dachverband die Themen jemals kantonsübergreifend mit Verantwortlichen besprochen. Das betrifft auch die immense und immer grösser werdende jüdische Infrastruktur mit Synagogen, Friedhöfen, Schulen, Gemeindezentren und so fort. Im 2022 verabschiedeten Strategiepapier kommen die Themen bis auf einen Halbsatz zur politischen Unterstützung jüdischer Bildungsangebote nicht vor. Ein Dachverband könnte sich federführend um jüdisches Leben kümmern, wie dies im Ausland zum Teil der Fall ist. Er muss aber nicht – sollte es dann aber auch ganz lassen. Denn Expertise auf diesem Gebiet fällt nicht vom Himmel. Mit der Zukunftsstiftung (tachles berichtete mehrfach) konkurrenziert der SIG Institutionen, die täglich mit sehr viel nicht bezahlter Freiwilligenarbeit Mittel generieren. Der SIG hat im letzten Jahr 60 000 für eine Fundraiserin ausgegeben und für 2023 220 000 für professionelles Fundraising budgetiert. Fundraising, das weitgehend die Verwaltung des SIG mitfinanzieren soll. Statt zu sparen, tritt der Dachverband in Konkurrenz mit Mitgliedsgemeinden und weit darüber hinaus. Mit irreführenden Begriffen wie «Zukunftsstiftung» oder «Machbarkeitsstudien» versucht der Dachverband eine nicht vorhandene Realität schönzureden, die es so längst nicht mehr gibt. Die SIG-Gemeinden stehen vor grossen finanziellen Problemen (vgl. Seite 17), die jüdische Zivilgesellschaft steht vor grossen Herausforderungen. Alleine für das Jahr 2023 rechnen jüdische Verantwortliche mit 20 Prozent Spendenrückgang aufgrund der aktuellen Situation bei Kapitalmärkten, Teuerungen und Nachwirkungen der Pandemie. Statt einer externen unabhängigen Machbarkeitsstudie zur Frage, ob die 2022 verabschiedete SIG-Strategie umsetzbar ist, hat der SIG eine Fundraiserin mandatiert, die eine sogenannte Machbarkeitsstudie abgeliefert hat zur Frage, ob die Zukunftsstiftung Gelder aus jüdischer und nicht jüdischer Provenienz erhält. Die Schwesterorganisation des SIG, der Verband der Jüdischen Fürsorgen in der Schweiz ist darin nicht eingebunden. Man lebt aneinander vorbei und geht längst getrennte Wege. Der Dachverband der jüdischen Gemeinden repräsentiert noch knapp die Mehrheit der Juden in der Schweiz – konkurrenziert sie aber zu 100 Prozent mit einer fragwürdigen und problematischen Stiftung, die im Falle der operativen Umsetzung einen Keil zwischen die Gemeinschaften wirft und einen jahrelangen unnötigen Konflikt zu verantworten hat. Anstatt dankbar für die Situation zu sein, dass der institutionelle jüdische Alltag bestens ohne ihn funktioniert und finanziert ist, torpediert er ihn. Es ist diese Formel, die nicht aufgehen wird: Während die jüdische Zivilgesellschaft oft mit Verzicht auf staatliche Gelder einen gelebten jüdischen Alltag fernab von Öffentlichkeit und Propaganda, das jüdische Familienleben unterstützt oder gar ermöglicht, sich meist für alle Jüdinnen und Juden in der Schweiz engagiert, tut der Dachverband das Gegenteil. Er sammelt Gelder für sich und setzt sich in Konkurrenz mit jüdischen Organisationen weit über Themen wie Antisemitismus oder politische Lobbyarbeit hinaus. Das führt zu Spaltung statt Einheit in den Dingen, wo Einheit sinnvoll ist: bei der sozialen Verantwortung für die Menschen in einem Land, die man zu vertreten vorgibt. Der SIG erkennt in der «Zukunftsstiftung» keine Konkurrenz. Die Realität wird aber zeigen, dass genau dies der Fall ist. Der Lakmustest werden dann die Anträge von jüdischen Gemeinden oder anderen an die SIG-Zukunftsstiftung sein, die Förderung für Dienstleistungen betreffen, die bis dann aus Spenden generiert wurden. Werden die abgelehnt, wird der Begriff «Zukunft» definitiv als Schall und Rauch entlarvt werden.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann