Das Jüdische Logbuch 18. Jan 2019

Tempel der Erinnerung

Wien, Januar 2019. Wien ist über Nacht weiss geworden, die Strassen schneebedeckt. Der Wind weht den Schnee ins Gesicht. Eine kurze Pause, das Kaffeehaus «Zum schwarzen Kameel», eine der Institutionen, die es so fast nur in Wien zu finden gibt. Unmittelbar neben dem Judenplatz gelegen, erinnert das Kaffeehaus an die Zeit der Kolonialwaren und zelebriert eine eigene inspirierte kulinarische Kultur. Von dort geht es vorbei am Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah zur Seittenstettengasse zum Kabbalat Schabbat im Stadttempel. Wiens Hauptsynagoge liegt im ersten Bezirk. Beste Adresse. Wie eine Kulisse für einen Historienfilm präsentiert sich die Stadt und allenthalben erinnern Zeugnisse einer blühenden jüdischen Vergangenheit daran, wie schwer Österreich sich immer wieder tut mit der Aufarbeitung der Geschichte und des Holocaust. Ein ambivalenter Spaziergang zwischen Nostalgie nach der jüdischen Hochkultur von einst, dem Blick auf die aktuelle rechte Regierung und der wieder stark aufgeblühten jüdischen Gemeinde. Mincha ist schon fast beendet, als sich der Chor bereit macht für das Maariw-Gebet zum Schabbat. Rabbiner Arie Folger, der einst in Basel amtierte, sitzt auf der Empore, erblickt die Gäste und eilt sofort hinunter zur Begrüssung. Die neoklassizistische Architektur wirkt imposant. Der ovale Raum mit Himmelsgewölbe erinnert an eine Oper und zeugt von einer starken jüdischen Präsenz vor dem Zweiten Weltkrieg. Oberkantor Shmuel Barzilai und der kleine Chor stimmen die Gesänge vor dem «Lecha Dodi» an, eine Inszenierung passend zum Raum. Das Publikum ist sehr gemischt zwischen angestammten Einheimischen und Zugewanderten. Doch etwas ist anders als in anderen Synagogen. Der imposante Raum, die Gesänge, die Säulen, die Noblesse wird überlagert vom Blick an die Wände rund um die Synagoge mit den Kupfertafeln entlang der verholzten Wand.

Arie Folger spricht zur Parascha, verbindet den Wochenabschnitt mit aktuellen Fragen über Identität und Assimilation. Längst hat er selbst sich so gut integriert, dass er mit Wiener Einschlag spricht – geistreich, mit Witz und dem Stadtakzent. Als nach dem Gesang die Türe aufgeht und eine Trauerfamilie den Raum betritt, heissen Rabbiner und Gemeindevorsteher die Trauernden im Kreise der Gemeinde willkommen mit warmen Worten der Erinnerung. Es sind diese Kupfertafeln, die jede und jeder immer im Blick hat auf Augenhöhe. Sie umgeben den runden Raum. Sie erinnern an Verstorbene Familienmitglieder. Die meisten führen Texte mit Erinnerungen an die von den Nazischergen ermordeten Eltern. Der Text der Schicksale wiederholt sich auf Hunderten von Tafeln, die Namen sind andere. Jede Tafel ist eine Geschichte, ein Buch, ein Mahnmal in der Gegenwart. Der Chasan stimmt den Kiddusch an und der Rabbiner lädt zum Schiur.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann