das jüdische logbuch 25. Nov 2022

Symbol- knallt auf Realpolitik

Berlin, November 2022. Auf dem Washingtonerplatz unmittelbar am Hauptbahnhof steht ein doppelstöckiger Container – das Empfangszentrum für Flüchtlinge aus der Ukraine. Es ist eisig kalt, ein beissender Ostwind fegt über den Platz. Dahinter strahlt der futuristische Cube Berlin. Im Minutentakt laufen Menschen vom Bahnhof zum Container. Es ist Herbst und der Winter schlägt bereits zu. Die Reisenden flüchten vor der Kälte in das Bahnhofsgebäude und man kann sich kaum vorstellen, wie die Menschen im ukrainischen Kriegsgebiet mit Minustemperaturen, Strom- und Gasausfällen, mit Zerstörung und Mangel auskommen. Tag für Tag bedrohen und zerstören die russischen Bombardements die Lebensgrundlage von Abermillionen Menschen. Ein Krieg wie aus dem vergangenen Jahrhundert katapultiert die Gesellschaft in jenes zurück. Deutschland ist im Krisenmodus, die raue Stimmung ist noch rauer geworden. Inflation und permanente Krisendebatten drücken die Stimmung. Für die Fussballweltmeisterschaft bleibt da nicht mehr viel übrig. Viele Berliner Kneipen boykottieren die Spiele, kündigen Alternativprogramme an und geben sich trotzig. Mit der Eröffnung der Weltmeisterschaft in Katar nimmt die Debatte um Menschenrechte, Sport und Autokratien zu. Zuschauer fordern von der Nationalmannschaft ein Zeichen, Symbolpolitik, während die iranische Nationalmannschaft mit der verschwiegenen Nationalhymne der Weltöffentlichkeit entgegenschreit, in welcher Realität viele leben. Auf einmal geht’s nicht mehr um Fussball, sondern vor laufender Kamera um Leben und Tod. Doch Sponsoren, Fussballverbände, die übertragenden Medienstationen mit wenigen Ausnahmen spielen das Milliardenspiel mit. Menschenrechtsorganisationen nutzen die Plattform und weisen auf Unrecht hin während sich der Schweizer Fifa-Präsident Gianni Infantino, die Organisation und die Schweiz vor der Weltöffentlichkeit mit entlarvendem Geschwätz blamiert und einmal mehr die Frage nach der Rolle der Schweiz und letztlich Zürichs provoziert. Allerdings eher im Ausland als in der Schweiz. Denn in Zürich stellt kaum jemand die Frage öffentlich, wie all dies möglich geworden ist – dass im Depositärstaat der Menschenrechtskonvention eine Fifa oder das olympische Komitee Despoten hofieren, Unrechtsstaaten legitimieren, Menschrechtsverletzungen, staatliche Diskriminierung stillschweigend hinnehmen. Es brauchte Katars Milliarden, dass Infantino, bei dem der Name schon Programm zu sein scheint, das kolonialistische und rassistische Erbe Europas in seiner Rede ansprach. Ein Thema, dass die Fifa allerdings nicht löst, sondern zu lange befördert hat in einer postkolonialen Welt mit fragwürdiger Transferpolitik. Vorsätzliche Dummheit, augenscheinliche Korrumpierbarkeit und demagogischer Populismus dieses Kurtisanen wird in der Schweiz hingenommen und in Zürich erst Recht. Denn die Drohung, den Fifa-Hauptsitz aus Zürich etwa nach Katar zu verlegen, bringt die Schweizer Politik zum Schweigen statt zum aufatmenden «Endlich!». Doch Zürich möchte eben die Nazi-Waffenmiliarden Bührles oder das Fifa-Scheinprestige nicht verlieren. Dass die Schweiz dann etwa die Lieferung von Munition über Deutschland in die Ukraine refüsiert, passt da treffsicher ins Bild. Man stelle sich vor, was geschehen wäre, wenn Israel Austragungsort der Fussballweltmeisterschaft geworden wäre. Wenn also ein paar Milliardäre sich diese WM bei den Fifa-Funktionären gekauft und ins immerhin noch demokratische Israel gebracht hätten. Nicht wenige Fussballverbände wären der WM ferngeblieben, Sponsoren hätten sich zurückgezogen, die Kritik wäre immens gewesen. Zu Recht: Denn wieso sollte zur Besatzung Israels geschwiegen werden? Das Normalverhalten hätte eingesetzt. Eine massive Kampagne gegen die Vergabe nach Israel hätte entweder zur Verhinderung der Austragung oder zu einer WM geführt, bei der viele auf einmal nicht mehr gesagt hätten: Sport und Politik müssen getrennt werden. Die ohnehin überbewerte BDS-Truppe hätte täglich eine Party gefeiert, der internationale Reflex gegen eine WM in einem so konfliktbeladenen Umfeld hätte zugeschlagen. Der Schweizer Bundespräsident hätte sich zu Wort gemeldet, das Thema wäre nicht erst an der WM, sondern lange davor an Zürichs Stammtischen verhandelt worden und hätte die Menschen regelrecht emotionalisiert. Wo ist all dies bei Katar geblieben? Mit der Eröffnung hat die Debatte um den Katar-Skandal zwar neue Dynamik erhalten, die allerdings bald wieder den Winterschlaf suchen wird. Lediglich das Bierverbot von Katar holt noch manchen aus der Reserve und bleibt Symptom der europäischen Scheinheiligkeit. Das Rauchverbot in öffentlichen Räumen geht zwar nicht auf Kultur und Religion, sondern Gesundheitsschutz zurück – bei der Israel-WM allerdings würde darüber nicht diskutiert werden, sondern es ginge ans Eingemachte. Haben Fussballverbände und Sponsoren bei der Europameisterschaft noch Zeichen gesetzt gegen die ungarische Diskriminierung etwa der LGBT-Community, ertränkt die Fifa jegliche Aktion in Sanktionen gegen Verbände, statt dass sie Katar für die täglichen Grenzüberschreitungen oder gebrochenen Abmachungen belangt. Vielleicht werden die Menschen auf den Strassen stärker sein als die Despoten in Regierungen und Verbänden, werden sich durchsetzen, sich den Mund nicht verbieten lassen, wie die mutigen Menschen im Iran, die schon über zwei Monate die immer greifbarere Freiheit erkämpfen. Vielleicht wird es in diesen Tagen noch ernsthafte Aktionen geben von Teams, die eben auch die Disqualifizierung in Kauf nehmen. Aktionen zum Krieg gegen die Ukraine, wenn etwa Russland aufmarschiert. Oder zur Frage der Frauen- und Menschenrechte in Katar. Die Fifa hat sich längst disqualifiziert, die schweigenden Sponsoren ebenso – nur noch die Basis, die Zuschauer können diesem skurrilen Wahn- etwas Sinn geben: mit täglichen Aktionen gegen das Fifa-Regime, gegen die Sponsoren und vor allem für die Einforderung von Massnahmen gegen Diskriminierung und Despotismus. Das wirkliche Endspiel dieser WM wird ein anderes werden müssen, das lange nach WM-Ende stattfindet. – Die herausfordernde Berliner Kälte kontrastiert die Hitze und das Schweigen von Katar. Vom Hauptbahnhof mit der S-Bahn geht’s zur Station Friedrichsstrasse. Vor dem Ausgang steht das Denkmal «Züge in das Leben – Züge in den Tod» zu den Kindertransporten von 1938–1939, über die Weidendammer Brücke zum Brecht-Platz vor dem Berliner Ensemble, und auf einmal ist er wieder da, der Brecht-Satz: «Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann