Das Jüdische Logbuch 06. Dez 2019

Richtige Empörung, falsche Debatten

Paris, November 2019. Ein Abend in Paris. Vertreter aus Wirtschaft, Politik, Gesellschaft diskutieren mit prominenten Gästen Fragen im Umgang mit Extremismus und Populismus in demokratischen Gesellschaften. Es ist ein geschlossener Rahmen mit offenen Voten im Rahmen der sogenannten Chatham-House-Regeln. Per Eilmeldung berichten Online-Medien über die Schändungen von über 100 Grabsteinen (tachles online berichtete) auf einem jüdischen Friedhof im Elsass. Wieder einmal nach grösseren Attacken im letzten März. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, die Regierung und Zivilgesellschaft reagieren sofort verbal und kündigen Massnahmen an. Die Debatte ist lanciert, die Reaktionen erfolgen reflexartig, die jeweiligen Wortmeldungen bleiben stereotyp und die Sache ist in drei Tagen wieder verflogen. Bis dann vielleicht Hinweise auf die Täterschaft folgen. Haben Rechtsextreme Hakenkreuze auf die Gräber geschmiert? Vielleicht sogar christliche? Waren es unbedarfte Teenager? Oder ist eine muslimische Gang am Werk? Die Debatte wird sich schlagartig verändern, wenn die Täterschaft bekannt sein wird. Die Politik wird sich dann alles zu eigen machen und populistisch nutzen – seien es die einen oder anderen. Bis dahin allerdings könnte die Debatte eine andere sein, nicht über Täter, sondern über den Akt und die Antwort einer hoch aufgeklärten Gesellschaft darauf, hier, mitten in Europa. Vielleicht ist der Zeitpunkt von Roman Polanskis soeben lancierten Films «J’accuse» zur Dreyfus-Affäre genau der richtige gewesen – hätte nicht die Polanski-Affäre der 1980er-Jahre das Thema überschattet. Auf jeden Fall wäre es nochmals die Möglichkeit gewesen, die Friedhofsschändungen von Westhoffen in einem weiteren historischen Kontext zu diskutieren, der nach wie vor und vielleicht wieder vermehrt gegeben ist. Und so konkludiert die Pariser Gesellschaft am Debatten-Abend, dass Aufklärung gegen Antisemitismus und Rassismus letztlich nicht durch Sicherheitskräfte und Wortparolen, sondern durch den neu verhandelten Gesellschaftsvertrag verhindert muss. Mit den Mitteln der Vernunft und dem Fokus darauf zwischen den Attacken.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann