Das Jüdische Logbuch 02. Nov 2018

Relativitätstheorie der Migration

Tanger, Oktober 2018. Der Gang entlang der Atlantikküste am Übergang zum Mittelmeer mit Blick auf die gegenüberliegenden 14 Kilometer entfernt liegenden Hügellandschaften von Spanien haben etwas Absurdes. Hier beginnt der mediterrane Raum mit der Strasse von Gibraltar. Sie steht für die Migrationsgeschichte von Jahrhunderten und heute wieder symbolisch für Flucht und Migration der Gegenwart. Für Juden und Muslime ist sie eine Art Membran der wechselseitigen Migrationsbewegungen geworden durch die Vertreibung der Christen um 1492 oder andere davor und danach. Nach dem Zweiten Weltkrieg verliessen Hunderttausende Jüdinnen und Juden den Maghreb in Richtung und Europa und Israel – durchaus nicht immer freiwillig.

Tanger ist der Brückenkopf des Maghreb geworden, der in Afrika liegt und vielleicht doch irgendwie zu Europa gehörte, obwohl die Stadt nie eine Kolonie war. Die Hafenstadt mit ihrer wechselvollen Geschichte zwischen Unabhängigkeit von und dann wieder Zugehörigkeit zu Marokko war auch ein Zentrum für Jüdinnen und Juden. Rund 20 000 lebten dort bis nach dem Zweiten Weltkrieg, da der marokkanische König sie unter ihr Protektorat stellte und vor dem Vichy-Regime schützte. Stolz erzählt die Tangerianerin Sonja Levy, dass der marokkanische König der Aufforderung des Regimes nicht folgte, eine Liste der Juden an die Nazis auszuhändigen und auf die Forderung antwortete: «In Marokko leben nur Marokkaner.» Nach dem Krieg verliessen viele Juden Tanger, gedrängt von Nationalisten, geholt von Zionisten oder auch aus ökonomischen Gründen, erzählt Levy und zeigt auf Elternhaus am Eingang zum Souk. Heute leben noch 40 Jüdinnen und Juden in Tanger. Zwei der alten von rund 15 prachtvollen Synagogen existieren in der Medina, eine neue im modernen Teil der Stadt. Ebenso ein jüdisches soeben ganz neu renoviertes Casino, heute Cercle, wo immer noch täglich ausschliesslich koscher gekocht wird, Clubmitglieder sich nachmittags zum Bridge oder dann zum Abendessen treffen. Sonja Levy muss sich beeilen. Sie ist soeben aus der Atlantik-Stadt Essaouira zurückgekehrt, wo das neue jüdische Museum eingeweiht wurde. Sie war noch nie in der Stadt, wo einst Juden die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. «Wir Tangerianer orientieren uns nach Europa. Marokko kenne ich viel weniger gut.» Vor der bekannten Buchhandlung Librairie des Colonnnes bleibt der Rabbiner stehen und spricht mit der 85-jährigen einstigen Inhaberin Rachel Muyal über eine Beerdigung von zwei marokkanischen Juden aus Frankreich, die sich auf dem alten Friedhof von Tanger mitten in der Altstadt beerdigen liessen.

In diesen Herbsttagen treibt der stürmische Wind heftige Wellen gegen die Küste, und die enge Meeresstrasse scheint unüberwindbar. Das Wolkenspiel am Himmel von Gibraltar nach Tanger und zurück lässt die Sonne durchscheinen und durchbricht den Blick auf die europäische Debatte über Migration, Flucht, Auswanderung, die zum Mantra der Politik geworden ist – unter Verkennung der letzten 150 Jahre Migrationsgeschichte gerade im Mittelmeerraum. Grenzen, die schützen, können auch bedrohen. Ob Migration ein Menschenrecht sein kann abseits von Asylfragen, wird in den kommenden Jahren zu diskutieren sein. Die jüdische und hier auch die muslimische Erfahrung sind indessen abseits von Parteiprogrammen Teil der europäischen Geschichte geworden.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann