das jüdische logbuch 16. Jun 2023

Planspiele im Kaffeehaus

Paris, Juni 2023. Es ist spätabends in einem Strassencafé in Paris. Der Zeitungsverkäufer ist seit Jahren der gleiche. Unaufdringlich bietet er frisch von der Druckerei die Druckausgabe des nächsten Tages an den überall voll besetzten Tischen an. Mit Freude fasst er die Schlagzeilen packend zusammen. Es ist bald Mitternacht. Kurz darauf liegen «Le Monde», «Le Figaro», «Le monde diplomatique» auf dem Tisch, an dem ein altgedienter Journalist des «Figaro» sitzt. Seine neueste Kolumne von Dienstag über den neuen atomaren Nahen Osten wird debattiert, ebenso der Artikel auf der Frontseite von «Le monde diplomatique» «La Suisse peut-elle rester neutre»? Eine spannende Diskussion beginnt, die Art Planspiele beim Tischgespräch, wie sie nicht nur in Paris seit Jahren täglich stattfinden und die Weltpolitik zum Thema haben. Mit dem Krieg gegen die Ukraine, dem Regierungswechsel in Israel haben sich die Vorzeichen vieler Gespräche geändert. Wie spricht man über Israel in diesen Tagen, wenn israelische Minister Juden diskriminieren mit Aussagen, die antisemitisch sind und die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung weltweit ausgrenzen? In Frankreich haben die jüdischen Verbände in der Woche zuvor den Auftritt von Israels Erziehungsminister boykottiert, ebenso vor ein paar Wochen in Berlin, England oder aktuell in den USA. Ob der Boykott von BDS weniger legitim sei als dieser, fragt ein Gesprächspartner. Ist der Antizionismus von BDS judenfeindlicher als Forderungen gewisser israelischer Regierungsmitglieder? Provokation oder Analyse? Die Kontexte in solchen Gesprächen haben sich geändert, die Matrix internationaler Politik oft auch. Dass der Diasporaminister nicht nur im verbalen Konflikt mit den Diasporajuden steht, ist angesichts des triefenden Rechtsextremismus in Israels Regierung nicht verwunderlich. Trumps Demagogie, primitive Chuzpe und Menschenverachtung bricht inzwischen bei vielen Politkern der Rechten durch. Wie sieht also der Nahe Osten von morgen aus, was bedeutet die Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien, mit welchem totalitären Regime wird paktiert werden und welche Atombombe ist das kleinere Übel? Kann die Schweiz neutral bleiben? Können jüdische Verbände schweigen? Im Tagesgespräch auf SRF erteilt alt Bundesrätin Ruth Dreifuss dem aktuell praktizierten Neutralitätsverständnis der Schweiz am Mittwoch eine Absage im Angesicht der aktuellen Kriegsverbrechen im Krieg Russlands. Derweil diskutiert die Runde in Paris die Absenz Frankreichs in der Weltpolitik und so fort. Das Absurde im Weltgewitter wird offensichtlich. Doch diese Erkenntnis hilft jenen nicht, die tagtäglich um Existenz und Leben kämpfen (vgl. Podcast Zukunft denken S. 11). Zeitung lesen, darüber sprechen ist wichtig. Doch letztlich muss der Widerstand gegen Barbarei durch Handlung geschehen. Neutral wird er nicht sein können.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG

Yves Kugelmann