Das jüdische Logbuch 27. Sep 2024

Ost-West am Hudson River

New York, September 2024. Die New Yorker nennen sie Shearith Israel. Die spanische und portugiesische Synagoge liegt an der West Side gegenüber des Central Park. Die sephardische Gemeinde war die erste jüdische Gemeinde in Nordamerika. Sie wurde 1654 gegründet und war bis 1825 die einzige jüdische Gemeinde in New York. Der Schames mit Zylinder läuft einige Kilometer ab während Schacharit. Seine Vorfahren stammen aus Frankfurt. Die Gemeinde folgt dem sephardischen Ritus der spanischen und portugiesischen Juden. Die Zylinder und Gewänder haben mit dem sephardischen Judentum wenig zu tun. Es sind Zeichen der Wanderbewegungen und der Adaptionen an die Gesellschaften, in denen die Juden einst gelebt haben. Alles zeigt sich wie aus einer anderen Zeit. Der Indian Summer lässt den Park erstrahlen und vereint Menschen aus allen Teilen der Stadt und letztlich der Welt. Manhattans Osten unterscheidet sich immer noch stark vom Westen und gerade innerhalb der jüdischen Gemeinschaft wird das sichtbar. Der Westen ist noch geprägt von der Einwanderungsgeneration mit seinen traditionsreichen jüdischen Geschäften vom ältesten Bagelshop bis zum legendären Feinkostgeschäft Zabar’s. Der Weg auf die East Side zu Mussaf in der neuen Alt-Neu-Synagoge wird jäh unterbrochen. Trachten, Polizeimusik, Wagen, wie am Kölner Fasching. Die jährliche German-American Steuben Parade ist ein traditionsreicher Umzug, der jedes Jahr stattfindet. Die Parade ist eines der grössten Ereignisse im deutsch-amerikanischen Festkalender und erinnert daran, dass um 1900 jeder vierte New Yorker aus Deutschland stammte. Der von der JM Jüdischen Medien AG herausgegebene aufbau ist 1934 in New York gegründet worden und wurzelte in dieser Tradition. Die Parade wurde 1957 von deutschstämmigen Amerikanern gegründet. Diese wollten die Traditionen ihrer Heimat aufrechterhalten. Die Deutschamerikaner sind bis heute die grösste Einwanderergruppe in den USA. Rund 15 Prozent aller US-Amerikaner sind deutscher Herkunft oder Abstammung. In New York City leben etwa 500 000. Die «Altneu» ist von Benjamin Goldschmidt gegründet und am Pessach eröffnet worden. Zu Mussaf ist die Synagoge übervoll und zieht vor allem junge modern-orthodoxe Jüdinnen und Juden an. Es ist das New York während der Uno-Vollversammlung. Die Stadt füllt sich mit internationalen Delegationen, Diplomaten und Politikern. An diesem Abend tritt der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski im Lincoln Center vor einer kleinen ausgewählten Gemeinschaft auf. Er spricht ruhig, wiederholt seine immer wieder gemachten Positionen zur Verteidigung der freien Welt in der Ukraine – doch wie er es sagt, mit welcher Ruhe, Gewissheit und Ausgewogenheit er spricht, hat nochmals eine eigene Qualität. Der ehemalige israelische Premierminister Ehud Barak hört gespannt zu. Seine Sorge um Israels innere und äussere Situation allerdings lässt ihn dann im Gespräch nicht ruhig bleiben. Seine in den letzten Tagen gemachten Forderungen nach einem Regierungswechsel unterlegt er mit Fakten und Argumenten. Der ukrainische Taxi-Chauffeur erzählt dann von seiner dritten Frau. Die Russin ist im Gulag als Tochter von zwei jüdischen Ärzten geboren. Er ist nun seit 25 Jahren mit ihr verheiratet. Er bleibt skeptisch, ob die Vollversammlung den Russland- und den Nahostkonflikt in Richtung Frieden wird drängen können. Aber eines ist für ihn gewiss: die Freiheit in Amerika soll eine für die Welt werden.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann