Nizza, Oktober 2022. Der Pijut «Unetaneh Tokev» ist zentraler Teil der Liturgie zu Rosch Haschana und Jom Kippur. In den Tagen des hohen Gerichts wird gemäss der jüdischen Mythologie besiegelt, «wie viele vergehen und wie viele geboren werden, wer leben und wer sterben wird, wer zu seiner Zeit und wer durch einen vorzeitigen Tod, wer durch Wasser und wer durch Feuer, wer durch Schwert und wer durch wildes Tier, wer durch Hunger und wer durch Durst, wer durch Erdbeben und wer durch Pest, wer durch Erwürgen und wer durch Steinigung stirbt, wer in Ruhe leben wird und wer herumirren muss, wer in Frieden leben wird und wer verfolgt wird, wer heiter sein kann und wer gequält wird, wer verarmt und wer reich wird, wer entwürdigt und wer erhöht wird. Aber Busse, Gebet und Rechtschaffenheit können die Schwere des Urteils abwenden.» Dunkle Zeilen, die sich in Tagen des Krieges nochmals anders lesen: «(...) wer in Frieden leben und wer verfolgt wird (...)». Der Text geht auf eine der berühmtesten mittelalterlichen Legenden rund um Rabbi Ammon von Mainz zurück. Dieser sollte vom Erzbischof bekehrt werden, nimmt sich Bedenkzeit, opfert seine Gliedmassen und verschwindet während des Rosch-Haschana-Gebets in der Synagoge gen Himmel. Den kanadischen Singer-Songwriter Leonhard Cohen, wie er einst schilderte, inspirierten die Gebete bei Synagogenbesuchen an Jom Kippur zu seinem Lied «Who by Fire». 1974 ist es es erschienen, stellt den Zweifel in den Vordergrund: «Wer durch Feuer / Wer durch Wasser / Wer in der Sonne / Wer in der Nacht / Wer als Strafe Gottes /Wer durch irdisches Gericht / Wer in den Wonnen des Mai / Wer durch Siechtum / Und wer – wer entscheidet das?» Wer entscheidet das? So enden alle drei Strophen des Lieds. Wer entscheidet über Krieg und Frieden, über Leben und Tod, Gerechtigkeit und Hass? Cohen zweifelt und legt die Verantwortung durchaus in die Hand der Menschen – weg vom Göttlichen. Und somit in den Bereich der aufgeklärten Vernunft. Sie wird letztlich Kriege beenden; die Unvernunft, Gier, Hass beginnen. Im Spiegel der jüngsten atomaren Bedrohung ist menschliches Handeln statt Hoffnung auf richtige oder falsche Götter gefragt. Letztere haben bisher keine der noch so verheerenden Katastrophen verhindert. Und wer an die mythischen Texte glaubt, wird dies in der Haftara zu Sukkot nochmals Wort für Wort in dem Text des Propheten Jecheskel vor Augen geführt erhalten in der Apokalypse des Kriegs zwischen den Völkern Gog und Magog auf dem Weg zur Verheissung. Ein Urtext der Apokalyptischen Verschwörungen in dieser Welt gerade in der christlich evangelikalen und teils orthodoxen jüdischen Auslegung. «Und wer – wer entscheidet das?» Beim Schicksal der Menschen führen Menschen Regie. Menschen sind die Akteure im Welttheater. Ob Religionen da Teil des Problems oder der Lösung sind, bleibt Thema für Symposien mit offenem, spekulativem Ausgang. Im Ukraine-Krieg ist die Antwort nicht so schwer zu finden. Ganz anders am Filmfestival von Hamburg bei der Premiere eines Fensehkrimis rund um pränatale Diagnosen und darauf basierende Abtreibungen. 9 von 10 Kinder mit Down-Syndrom, ausgelöst durch ein zusätzliches Chormosom 21, werden nicht mehr geboren. Als der 17-jährige Hauptdarsteller Jonas mit Down-Syndrom nach dem Film eine Stunde beim persönlichen Gespräch sitzt, Freude, Esprit und Einblicke in eine andere so geistreiche Welt vermittelt, ist man froh, dass er auf dieser Erde ist, von Menschenliebe und nie Krieg spricht. Was nicht ein Votum gegen Abtreibung, sondern ein Plädoyer für Vernunft ist, hat der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt im Angesicht der atomaren Bedrohung nach 1945 im Stück «Die Physiker» beschrieben: Die realen und falschen Wissenschaftler Newton, Einstein, Möbius haben sich ins Irrenhaus einliefern lassen – Newton und Einstein sind Agenten – und lassen die verrückte Welt aussen vor. Wer und was normal ist, stellt Dürrenmatt zur Disposition in einer verrückten Welt. «Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.» Wie wahr: «Und wer – wer entscheidet das?» Die Zeit der richtigen Entscheidungen in einer Welt, die sich durch Menschenhand tausendfach selbst vernichten kann, ist jetzt. Getroffen werden muss sie in Parlamenten, allenfalls auf Theaterbühnen – hoffentlich nicht in Gotteshäusern. «Gmar tov» – (zu deutsch «guter Abschluss») – oder besser: Beginnt gut. Mit den richtigen Entscheidungen.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
07. Okt 2022
Menschen im Irrenhaus, Götter am Abgrund
Yves Kugelmann