das jüdische logbuch 01. Nov 2019

Liberalität ist die beste Verteidigung

New York, Oktober 2019. Das erweiterte Museum of Modern Art (MoMA) in New York ist soeben mit neuem Westflügel, neuen Beständen und einer neu inszenierten Ausstellungsanlage wiedereröffnet worden. Ob die Konzeption überzeugt, der Parcours durch die gigantische Sammlung Kunst sinnvoll vermittelt und die kunsthistorische Einbindung stimmt, sei dahingestellt. Auffallend sind jedoch die vielen an den Räumen oder Galerien publizierten Namen von Spendern im Museum ebenso wie die Herkunft der Donationen vieler Werke ans Museum. Ein überragender Teil der Donatorn ist jüdisch. Die philanthropische Tradition der USA und jene der jüdischen Kultur vereinen sich. Aber nicht nur: Es ist das jüdische Amerika, das liberale jüdische Amerika, meist aus Europa stammend, das sich hier widerspiegelt. Die Tradition von Partizipation, Integration und Emanzipation ohne Selbstaufgabe oder gar Assimilation. Das Selbstbewusstsein gerade des jüdischen New York zeigt sich bis heute in einer kulturellen und gesellschaftspolitischen Ambition, die sich in der ganzen Stadt entlang des Broadway über sämtliche Kulturstätten hin erstreckt.

Es ist ein sonnenerfüllter Herbsttag, «Indian Summer», wie es so schön heisst. Im Garten des Museums, wo die Skulptur von Alberto Giacometti neben einer zehn Meter grossen Rose fast untergeht. Das MoMA zeigt, ohne dies herausstreichen zu wollen, zugleich die Vision einer 
Gesellschaft. Viele ausgestellte Künstlerinnen und Künstler stammen aus Minderheitenkulturen und haben sich durchgesetzt. Viel Bekanntes, noch mehr Überraschendes ist zu sehen, für diejenigen, die dafür die nötige Zeit und Kondition mitbringen. Das neue Museum öffnet sich einem als endloses Labyrinth, oft mit wenig Sinnlichkeit in einer Art von Kaufhausatmosphäre, aber doch mit bestechender Werkschau. Die Sammlung ist relevant, global, und gilt als ein «melting point» der Kulturen, der zufälligen Begegnung und Vermittlung in den Fokusnimmt - sich als öffentlicher Ort der Gemeinschaft versteht so 
wie die unweite National Public Library, die 
sich ebenfalls immer wieder auf ihre Tradition der Einwander beruft und sich als Ort von Minderheitengeschichten präsentiert.

Kultur heisst in den USA die Möglichkeit von Anfang an zu partizipieren, was beim Gang aus dem Museum in die Vielvölkerstadt, wo der Trump Tower um die Ecke zur antagonistischen Farce geworden ist, sofort auffällt. Doch das wahre, über Jahrzehnte gereifte Amerika steht im Wandel. Die liberale Kraft, das lange gewachsene aufbrechende Selbstbewusstsein, hat eine Gesellschaft etabliert, die sich nicht abschottet, sondern sich als ein Amerika versteht, ohne dass die bedrohlichen Entwicklungen des aufsteigenden anderen rechtsextremen Amerikas verdrängt werden. Und so ist der Trump Tower neben Selbstinszenierung vor allem zu einer Touristenattraktion mit einigem Leerbestand und der «America First»-Plattitüde am Eingang verkommen, das dem vielfältigen Strassenbild entgegensteht. Das Amerika der Vielfalt mit den starken Einflüssen aus allen Kontinenten bleibt das überragende. Darin ist viel Europa, auch wenn Europa in der Realität immer wieder in Vergessenheit gerät. Die Liberalität ist letztlich die Quintessenz der verbrieften Werte einer modernen Gesellschaft zur Gleichberechtigung und geschützten gelebten Vielfalt in Solidarität. Sie geht dann unter, wenn sie den faschistoiden Entwicklungen nicht permanent entgegengehalten und sich weiter unabhängig davon entwickelt. Für die sich nicht auflösende Minderheiten wird sie die einzige Perspektive bleiben, wie sich beim Ausgang im MoMA mit einer Installation der Farbigkeit von Amerikas Künstler Sol Lewitt, «Wall Drawing #1144, Broken Bands of Color in Four Directions», aus dem Jahre 2004 zeigt. Was zuerst als Blickfang für Kinderaugen scheint, ist ein Kunstwerk und zugleich eine Farb- und Gesellschaftsstudie, ein Symbol zur Entwicklung einer Gemeinschaft, die nach vorne und nicht zurückschaut.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann