Das Jüdische Logbuch 09. Nov 2018

Lebende – nicht Überlebende

Zürich, November 2018. Die Schweizer Synagogen leuchten in diesem Jahr in Erinnerung an die Reichspogromnacht, in der 1938 Synagogen in Deutschland gebrannt haben und der Massenmord an 
Europas Juden seinen Lauf nahm. Sie erzählt immer noch mit der Wut im Bauch ihre Geschichte über Flucht, Ausgrenzung Konzentrationslager. Wut, über diejenigen, die dem kleinen Mädchen auf der Flucht, ohne Eltern, nicht geholfen haben. Wut über die geraubte Jugend, über Krankheit und Leid – und auch über eine Gesellschaft, die eine solche Schoah-Geschichte heute kaum mehr verstehen kann beziehungsweise möchte. Und doch hat sie sich versöhnt mit dem Schicksal, ein neues Leben begonnen, eine grosse Familie begründet und versucht, an Schulen mit ihrer Geschichte für Aufklärung, Verständnis und gegen die Mechanismen der Aufklärung zu wirken. Mit Erfolg und persönlicher Befriedigung. Zeugnis Ablegen ist für sie geradezu zum Lebenselixier geworden. Wenige Tage nach der Attacke auf die Synagoge von Pittsburgh und am Vorabend des 80. Jahrestags der «Reichspogromnacht» wird das Gespräch über Vergangenheit eines über absurde Gegenwart, wenn mitten in Europa der Mob durch Strassen zieht und gegen Juden ausruft, wenn eine staatlich orchestrierte antisemitische Hetzkampagne in Ungarn gegen einen jüdischen Milliardär stattfindet oder eine unwürdige innerjüdische Debatte im Nachgang zum Pittsburgh-Attentat soziale und andere Medien beherrschen kann. «Die Geschichte ist weit weg. Doch die Mechanismen sind immer und immer wieder da», sagt die Überlebende, die sich als Lebende sieht. «Ich bin nicht in Auschwitz geboren. Ich habe gelebt und lebe.» Ja, die Träume sind immer noch da. Die Gedanken kommen täglich. Doch sie ist frei. «Ich lebe heute und nicht in der Vergangenheit». Dass allerdings die jüdische Gemeinschaft es sich zur Aufgabe machen musste, die Erinnerung an die Schoah zur selbstgestellten Aufgabe zu machen, irritiert sie. «Wir müssen Zeugnis ablegen. Doch müssen wir die Erinnerung vorgeben und diktieren?». Sie wünscht sich, dass die Gemeinschaft aus Erkenntnis und Verpflichtung gegenüber er der Geschichte die Erinnerung und vor allem die Lehren aus der Schoah hochhält, damit es nie mehr zu Genozid, ethnischer Säuberung oder industriellem Massenmord kommen kann. «Es geht doch nicht um die Juden, sondern um uns als Gesellschaft – und zu der gehören Juden.» Wenn künftig am 9. November, am 27. Januar und den vielen anderen Tagen der Vergangenheit gedacht und an sie erinnert wird, dann aus eigener Initiative. «In einigen Jahren können wir nicht mehr berichten. Ich möchte die Gewissheit haben, dass die Gesellschaft von sich aus der Geschehnisse gedenkt, damit unsere Urenkelkinder in Frieden leben».

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann