Zürich, März 2024. Ist seit dem Messerattentat von Samstagabend alles anders? Ist der Antisemitismus in der Schweiz davor vollends falsch eingeschätzt worden? Oder ist das Attentat eine fatale, schockierende Einzeltat?
Das Messerattentat von Zürich (vgl. S. 12, 15, 25) ist ein weiteres Glied in einer langen Kette von virulentem, latentem, stabilem Antisemitismus in der Schweiz – mit Attentaten, Morden, physischen und verbalen Übergriffen und einem weitverbreiteten Antijudaismus. Für viele in der jüdischen Gemeinschaft kommt der vorsätzliche Judenmordversuch mit klarem Motiv weniger überraschend als für jene, die seit dem Wochenende ein Erweckungserlebnis haben und mit Aktionismus, Populismus, einer Verpolitisierung, Ethnisierung der Attacke und letztlich des Antisemitismus unterwegs sind. Auf einmal sind alle zur Stelle mit Communiqués, Forderungen, Solidarisierungen. Die einen rufen «Terrorismus», die anderen nach «Ausbürgerung» des Täters oder Revisionen im Jugendstrafrecht. Die einen Stellungnahmen, wie etwa die der FDP Zürich, kamen aus freien Stücken. Wiederum andere, wie etwa der SP, entstanden zwei Tage später auf Druck. Die SVP und die Linke liefern sich eine eskalierende Debatte im Zürcher Stadtrat (vgl. S. 14), Funktionäre und ihre Lakaien sprechen von «Zeitenwenden». Doch Prävention, Aufklärung und seriöse Analyse beginnen nicht mit dem Attentat sondern Jahre vor dem Attentat, das es verhindern soll – und sicher nicht immer kann. Bis zum 7. Oktober bzw. zum Messerattentat waren Antisemitismus, Diskriminierung von Juden oder Judenhass ebenso da, wie danach. Sie haben sich davor immer wieder artikuliert und noch stärker danach. Abgebildet wurden sie allerdings von den jüdischen Verbänden CICAD, Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus sowie dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) kaum bis gar nicht. Eine Handvoll Ereignisse stellten sie fest – nach dem 7. Oktober ein Vielfaches. Die Verbände haben sich zur Aufgabe gemacht, was sie nicht können: Antisemitismus in der Gesellschaft zu quantifizieren – mit einer unsinnigen Methode. Wer gemeldete Vorfälle zum Parameter der Analyse macht, sieht die Spitze des Eisbergs und nichts darunter in etwa so, wie jene, die die sichtbaren Herpes-Infektionen zählen, statt infizierte Herpes-Träger zu identifizieren. Mit diesen falschen «Studien» kommt man nicht nur zu falschen Schlüssen, sondern zu noch falscheren politischen Forderungen und wird nicht Teil der Lösung. Seit Samstag sitzen nun alle sprachlos da wie begossene Pudel und ringen um Erklärungen. Qualitative wissenschaftliche Erhebungen sind auch zum Thema Antisemitismus möglich. Sie müssen allerdings unabhängig entstehen und von Experten durchgeführt werden. Das ist evident, wenn es um die Frage geht, wie sich in der Schweiz Judenhass im Bereich Rechtsextremismus, Linksextremismus, bei eingewanderten oder geflüchteten Menschen, in der Mitte der Gesellschaft, innerhalb von Verwaltung oder Behörden darstellt, wie und wo die digitalen Plattformen massiv problematisch werden und welche Massnahmen auf Basis von Gesetzen, Ressourcen und Methoden ergriffen werden können und sollen. Denn Aufklärung gegen Antisemitismus, Diskriminierung oder Fremdenfeindlichkeit werden nicht mit dem Feuerlöscher, sondern mit nachhaltigen Programmen und einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit Judenfeindlichkeit möglich: Terrorfinanzierung, Relativierung von Geschichte, Negierung von Kausalitäten, Abwehr von Forderungen jüdischer Opfer etwa bei der Debatte der nachrichtenlosen Vermögen und immer wieder NS-, islamistische, antisemitische Hass- und Hetzpropaganda öffnen Schleusen, zementieren Vorurteile und festigen jahrhundertealte Stigmata, anstatt sie aufzulösen. Das gilt in jüngster Zeit oft auch für die mediale Stilisierung von jüdischen Themen – etwa von orthodoxen jüdischen Touristen in Schweizer Bergorten – im öffentlichen Diskurs, die auf eine immer verheerende und desaströse Nachrichtenlage im Gaza-Krieg, auf andere Narrative und Schicksale prallt, die das israelische zum Teil dekonstruieren.
Alle wissen, vermehrte Sicherheit und Polizeipräsenz sind keine nachhaltige Lösung für die Verhinderung solcher Attentate, sondern allenfalls die Ohnmacht vor den verkannten Problemen, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass eine solche Tat lange davor verhindert werden kann – ohne Garantie allerdings. Die Verhörberichte werden da dereinst Einblicke geben. Dass Männer mit Zivilcourage womöglich noch Schlimmeres verhindert haben, ist evident. Ebenso wie die Tatsache, dass der muslimisch konnotierte Hintergrund des Täters und die politischen Forderungen nach Bürgerrechtsentzug zeigen, wie auch dieser Diskurs politisch missbraucht und letztlich diskriminierend ist und in eine Sackgasse läuft, wenn Taten von anderen Absendern stammen. Die betroffene orthodoxe jüdische Gemeinschaft reagiert geschockt pragmatisch bis fatalistisch, hält sich zurück und wird von links bis rechts überrollt mit Forderungen. Auf einmal wird ein nationaler Plan gegen Antisemitismus wieder aktuell, während Nazisymbole und die Hamas immer noch nicht mal verboten sind. Auf einmal wird von Geld gesprochen, das vorher nie da war und jetzt viele gerne hätten. Es wäre viel geleistet, wenn Antisemitismusbekämpfung, -erhebung und -beurteilung von der jüdischen Gemeinschaft vollends entkoppelt und in geeignete Fachstellen übertragen würden. Wenn die jüdische Gemeinschaft nicht mehr als Scheinpolizistin auftreten muss und die Sicherheit zur Pflicht und nicht mehr zur Kür wird. Antisemitismusbekämpfung funktioniert nicht von oben herab, sondern muss aus der Tiefe der Gesellschaft angegangen werden – und wird es auch schon seit vielen Jahren abseits der Empörungsgesellschaft gerade dort, wo nicht hingeschaut wird. Es wäre viel getan, wenn über Antisemitismus frei von Politik und Interessenlagen gesprochen werden könnte. Dann würden auch Themen wie Antisemitismus bei Muslimen, BDS oder politischen Behörden zielgerichteter angegangen werden können. Denn dies wird nötig sein, wenn der politische Öffentlichkeitstross die Scheinwerfer aufs nächste Thema richtet und die Jüdinnen und Juden wieder alleine gelassen sind mit dem tagtäglichen Antisemitismus. So viele haben jahrelang geschwiegen. So viele haben jahrelang falsche Analysen vorgenommen. So viele haben jahrelang zu sich selbst statt auf Augenhöhe mit der breiten Gesellschaft gesprochen. Antisemitismus ist das erste globale «Produkt» der Menschheit und hat Gesellschaften immer wieder überfordert, die Gesellschaft einseitig geeint und eine grosse Spaltung, viele Opfer, Angst und Ohnmacht überlassen. Der antisemitische Zürcher Mordversuch sollte Anlass sein für einen neuen Diskurs und eine ernsthafte Aufklärungsarbeit über Judenhass. Auch jüdische Institutionen müssen ihre Tätigkeiten, Strategie und Schwerpunkte neu evaluieren. Denn offensichtlich sind am 7. Oktober nicht nur der interreligiöse und -kulturelle Dialog in sich zusammengebrochen, Gefahren links und rechts liegen gelassen worden, vor denen Experten stets gewarnt haben. Dass diese Kritik erst nach dem Mordanschlag von Zürich durchdringen kann, zeigt die Problematik von Politik- und Lobbydiskursen im Reaktionsmodus. Gesellschaftsübergreifende Allianzen werden das Fundament bleiben, die Politik und Interessenverbände allenfalls tatkräftig unterstützen, aber nicht okkupieren sollten.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdische Medien AG.
das jüdische logbuch
08. Mär 2024
Judenmordversuch und Populismus
Yves Kugelmann