Das Jüdische Logbuch 05. Okt 2018

Glaubensfragen am Hudson

New York, September 2018. Die Frage, welche Rolle Religionen im Kontext der vielfältigen politischen Herausforderungen spielt, ist in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der Debatten gerückt. Sind Religionen auch in der Moderne massgebender Ausgangspunkt von Konflikten, oder können sie zu deren Lösungen beitragen? Dies wird allenthalben breit diskutiert. Klar ist aber, dass die Verantwortlichen innerhalb von Religionsgemeinschaften zusehends die Augen vor den Aussenwelten nicht verschliessen können und mit gesamtgesellschaft-
lichen Fragen interagieren müssen. Die jährliche UN-Vollversammlung in New York ist auch ein Zusammentreffen von Kulturen und Religionen. Abseits der politischen Debatten im Plenarsaal finden unzählige Konferenzen und Veranstaltungen statt, die mit zivilgesellschaftlichem Ansatz die Gesellschaften gerechter machen und Probleme lösen wollen. Rabbi Arthur Schneier ist einer der Pioniere auf diesem Gebiet. Geboren 1930 in Wien, floh er 1938 nach Budapest, wo er den Zweiten Weltkrieg überlebte. Bereits 1962 gründete er die «Appeal of Conscience Foundation». Die Organisation engagiert sich auf der Basis interkonfessioneller Partnerschaft zwischen spirituellen Verantwortlichen verschiedenster Glaubensgemeinschaften für ein friedliches Zusammenleben und setzt sich für «Frieden, Toleranz und die Lösung ethnische Konflikte» ein. Der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger würdigte letzte Woche in New York bei einer Gala Artur Schneiers unermüdlichen Glauben und Einsatz für die Stärkung der Zivilgesellschaft und be-
leuchtete in einer markanten Rede die politische Situation der Gegenwart. Arthur Schneiers Lebenswerk ist beachtlich. Der New Yorker Rabbiner hat mit seinem «Appeal of Conscience» eine wichtige Plattform nicht nur des Dialogs für Toleranz geschaffen, sondern er versucht auch dort aktiv einzuwirken, wo Unrecht und Ungerechtigkeit Überhand nehmen. Letzte Woche mahnte er die geistlichen und politischen Verantwortlichen nochmals an, Grund- und Menschenrechte si-
chern zu helfen und im Dialog Bedrohung durch Konflikte entgegenzuwirken – bei ihm oft mehr als Worte, wenn man sieht, wie er Allianzen bildet und in die Glaubensgemeinschaften hineinwirkt.

An der Veranstaltung der «Global Hope Coalition» ehrte deren Vorsitzende und ehemalige UNESCO-Präsidentin Irina Bukowa mit der Imamin Sherin Khankan und der französischen Rabbinerin Delphine Horvilleur zwei Frauen, die sich gegen Diskriminierung, Antisemitismus und für Frauenrechte innerhalb ihrer Gemeinschaften einsetzen. Die Dänin gründete die Mariam-Moschee in Kopenhagen, die sich in wesentlichen Punkten von traditionellen Moscheen unterscheidet. Zum einen wird sie von Frauen geleitet, zum anderen setzt sie sich mit einem Neunpunkteprogramm gegen patriarchalische Strukturen in muslimischen Gemeinschaften ein und interpretiert in der Tradition des Sufismus den Koran im Einklang mit Menschenrechten. Die Französin Delphine Horvilleur ist Rabbinerin in Nancy, propagiert in ihren Büchern eine moderne Deutung der jüdischen Quellen und setzt sich mit interreligiösen Partnerschaften gegen Antisemitismus ein. Letztlich werden es solche Frauen sein, die Veränderungen in Glaubensgemeinschaften und Gesellschaften einleiten werden, in Allianz mit denen, die sie unterstützen können und wollen. Veränderungen, die ohnehin umumgänglich und in New York jedes Jahr stärker wahrnehmbar sind. Die Zeit der grossen Religionskriege mag vorbei sein, aber jene, in denen Religionen auch bei der Lösung von säkular bedingten Konflikten eine
grosse Rolle spielen, nicht.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann