das jüdische logbuch 05. Jul 2024

Die ungeduldige Vergangenheit

Paris, Juli 2024. Der Zeitungsverkäufer läuft durch die Cafés und ruft spät abends die Schlagzeilen der Tageszeitungen vom nächsten Tag aus und führt die ersten Drucke mit sich. «Regierungssprecherin Pascale Thevenot attackiert». Das politische Klima ist rau geworden. Die Republik steht wenige Tage vor der Stichwahl Kopf. Alles mobilisiert gegen rechts, mit taktischem Geplänkel versuchen die Parteien zu retten, was vielleicht nicht abzuwenden ist: dass das Versagen der Regierung die Wählerinnen und Wähler in den Protest oder noch schlimmer – vielleicht sogar in die neue Normalität getrieben hat. Frankreichs Juden stehen zwischen rechtsextremer Pest und kommunistischer Cholera. Da erscheinen die seit Jahren ungelösten Schweizer Probleme wie Pillepalle. Doch haben sie mit dem Grossen Ganzen mehr zu tun, als so vielen lieb sein mag. Mit der Frage nach Integrität, Redlichkeit, Wahrheit ebenso wie mit politischen Mangelerscheinungen, Korruption und Antisemitismus. Marine Le Pen hat sich zur Komplizin ihres Vaters, des Holocaust-Leugners und Antisemiten Jean-Marie Le Pen, gemacht, der mit beidem zu viele Franzosen dort abholte, wo sie noch lange vor dem Fremdenhass empfänglich waren, bei der Konspiration gegen Juden. Corine Mauch hat sich zur Komplizin von Bührle gemacht, deren Namen sie nicht aus dem öffentlichen Raum verschwinden lassen wollte, aber alle Referenzen zu Mohren sehr wohl. Sie wollte in der europäischen Museumsliga mitspielen, hat unter Auslassung sämtlicher relevanter und längst greifbarer Tatsachen ein Museumsprojekt durchgeboxt, das Zürich immer mehr zur Lachnummer und noch mehr zum notorischen Schweizer Fall der Uneinsichtigkeit und noch mehr zur Bastion des klassischen Antisemitismus gemacht hat. Da ist der Nazikollaborateur, der mit Blutgeld eine Kunstsammlung aufgebaut hat, die zuvor weitgehend «jüdisch» war, aus der die Familie, die Bührle-Stiftung und ihr so genannter Provenienzforscher Lukas Gloor jüdische Referenzen inklusive der Nennung jüdischen Vorbesitzer getilgt haben. Mit dem Bericht der Kommission Gross ist nun amtlich, dass seine Provenienz-Aussagen und vieles andere eine grosse dicke Lüge war (tachles online berichtete). Bührle machte sich den jüdischen Blick auf Kunst, die wirtschaftliche Not der einstigen Besitzer zu Eigen und hat Nachkommen, die diese Kunst heute in Zürich an den Wänden hängen haben – darunter nicht wenig Raub- oder NS-Verfolgungsbedingte Kunst. Wer da Böses denkt, an Judenfetische in Nazihäusern von einst, liegt vielleicht gar nicht so falsch. Wer in diesen Tagen mit Menschen in Zürich aus dem Umfeld des Kunsthauses Zürich, der Kunsthausgesellschaft, der Bührle-Stiftung, der Politik, der Hautevolee am Zürichberg spricht, hört vor allem eines: Uneinsichtigkeit und viel viel klassischen Antisemitismus. «Der Jude Raphael Gross hat …». «Die Juden wollen doch nur Geld …». «Die Juden sollen doch …». Was man halt so sagt und denkt in elitären Zirkeln. Natürlich alles mit bester Absicht und niemand meint es Böse. Klar ist: Die Bührle-Sammlung ist ein Skandal und der Weg, der dazu geführt hat, ebenso, genau so, wie das Vorgreifen der Stiftung Bührle auf den Bericht von Gross, der neue Work-in-progress-Tango rund um Bührle mit einem seltsamen Judenverständnis und einer gescheiterten historischen Einbettung, die in einem Kunstmuseum ebenso wenig zu suchen hat, wie Raubtiernummern im Zirkus. Dass der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und andere jüdische Agitatoren das Thema jahrelang völlig verpasst haben, um mit dem Impetus der duckmäuserischen Scheinheiligkeit das Thema für sich nutzen wollen, macht alles nicht besser. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» dekonstruiert den Zürcher Umgang mit Bührle ebenso wie «Die Zeit» oder die «Die Süddeutsche Zeitung», die schreibt: «Ohne Holocaust gäbe es die Bühre Sammlung nicht». Wären da nicht die Warner, die Kritiker, ein paar wenig Journalisten etwa beim «Beobachter» oder der «Republik» gewesen, die gegen viele Widerstände am Thema geblieben sind, hätte letzten Freitag Raphael Gross nicht eine integre, unaufgeregte Performance für die Sache abgeben können, die nur eines im Blick hatte: Gerechtigkeit für die Opfer, Klarheit für die Sache. Gestützt wurde all dies von keinem geringeren in der Medienmitteilung der ehemaligen Mitglieder der Unabhängigen Historikerkommission Zweiter Weltkrieg als von Historiker Saul Friedländer. Der runde Tisch und die Kommission waren ein überflüssiges, ein kostspieliges Intermezzo, das nur der Sturheit von Stadt, Museum, Stiftung und Kunsthausgesellschaft geschuldet ist, um zu sagen: Jetzt müssen wir nochmals von vorne beginnen. All das wird die Stadt Zürich viele Millionen kosten, selbst wenn der bisher schweigende Enkel von Bührle, Gratian Anda, Geld lockermacht für die neue Provenienz-Forschung oder wenn Kommunikationsmann und Stiftungsratsmitglied der Bührle-Stiftung Viktor Schmit doch tatsächlich Walter Feilchenfeldt als jüdischen Kronzeugen vorführen wird, der die Bilder seiner Familie im Bührle-Bestand nicht restituiert sehen will. Am Anfang und am Ende trägt Corine Mauch die politische Verantwortung und auch jene für den grösser werdenden Antisemitismus in der Sache. Zurücktreten wird sie nicht. Sollte sie aber. Denn sie ist die einzige Präsidentin einer westeuropäischen Stadt, die ein Nazierbe in den öffentlichen Raum hebt und dazu eine Abstimmung durchgeboxt hat ohne transparente Information darüber, worüber Zürichs Bürgerinnen und Bürger abstimmen. – In der Buchhandlung L’écume des pages liegt die geniale Graphic Novel «Nous viverons» von Joann Sfar über Juden und Muslime in Frankreich nach dem 7. Oktober aufgetürmt – bereits ein Bestseller in Frankreich. Viele werden sich fragen, was all dies, der kommende Sonntag, die drohenden neuen rechten Regierungen in Europa mit dem Zürcher Bührle-Desaster zu tun haben. Sehr viel, oder wie es Jean Améry sagen würde: «Niemand kann aus der Geschichte seines Volkes austreten. Man soll und darf die Vergangenheit nicht ‹auf sich beruhen lassen›, weil sie sonst auferstehen und zu neuer Gegenwärtigkeit werden könnte.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann