Nizza, August 2024. Er gehört zum Stamm der Kohanim. Geboren in einer kleinen marokkanischen Stadt im Grenzgebiet zu Algerien – der Stadt der Kohanim. Als Jugendlicher überzeugte er seine Eltern, aus Marokko auszuwandern. Im Nachgang zu Israels Gründung wurde das Leben für Juden in Marokko schwieriger, Ausschreitungen und teilweise Vertreibungen folgten. Frankreich oder Israel? Es ist ein Sommernachmittag. Der Mode-Unternehmer sitzt in seinem weissen Hemd beim Espresso, neben sich die Zeitung. Er blickt zurück in die Vergangenheit voller Nostalgie und spiegelt sie in der Gegenwart. Sein Vater war Zionist. Doch sie sind nach Frankreich ausgewandert. Die Kultur, die Sprache waren dann doch näher. War das richtig, war es falsch? Zuhause haben sie Französisch und arabisch gesprochen. An seinen Heimatort ist er nur noch einmal zurückgefahren. Zu schmerzhaft sei für ihn der Rückblick vor Ort gewesen – jener Ort, jene Kindheit, an die er täglich denkt. Er verbringt heute viel Zeit in Marrakesch und Tanger, in einem anderen Marokko. Mit jedem Satz spricht er auch über die Gegenwart, über die Situation der Jüdinnen und Juden in Europa, in Israel, über die vielen Freunde, die sich überlegen, aus Israel oder wiederum aus Frankreich auszuwandern. Politische, wirtschaftliche und andere Gründe drängen bei vielen. Er spricht über das Unvermögen, in den Dialog zu treten. Alle würden nur noch zu sich selbst sprechen, aber nicht mehr mit anderen. Wer, wie der Kohen, aus einer Vielethnienkultur kommt, aus dem Land der Berber, jenem Land, in dem die Religion, die Islamisierung nach der Kultur ankam, wer also diese Kultur des Miteinanders unter Fremden zur Normalität erkoren hat, blickt auf den europäischen Diskurs der permanenten Abgrenzung oder den Versuch, die Fremden oder Anderen zu integrieren, skeptisch. Der Kohen ist ein bewusster Jude geblieben. Und er sagt, er ist auch ein Zionist geblieben – doch was würde das heute bedeuten? Ist das Israel von heute, die israelische Regierung der Gegenwart noch Teil des zionistischen Projekts seiner Jugend? Sollen, können, müssen Juden sich in Frankreich etwa klarer positionieren? Hätten sie es schon lange tun müssen, oder sollten alle nach Israel auswandern? Sind die Ereignisse der Gegenwart ein weiteres Kapitel der grossen jüdischen Geschichte von Migration, Flucht, Vertreibung, Ausgrenzung, oder gibt es ein äquivalentes Kapitel der Kontinuität, Klarheit und Sicherheit? Der Kohen bestellt sich einen zweiten Espresso, rührt den Zucker minutenlang hinein, als ob er in der Vergangenheit verharrt. «Ich weiss es nicht», sagt er und sagt auf die Frage, warum er in den 1950er Jahren nicht nach Israel wollte: «Es war kein rationaler Entscheid, es war ein Gefühl.» Und fragt: «Haben Sie die Schlagzeile in ‹Le Monde› gesehen?»
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
23. Aug 2024
Déjà-vu im Jetzt
Yves Kugelmann