Das jüdische Logbuch 30. Aug 2024

Das Ausrufezeichen von Paris!

Paris, August 2024. «Was läuft eigentlich in Zürich mit Bührle?» fragt der alte junggebliebene Schriftsteller im Café Flore. Er ist über 70, sieht 20 Jahre jünger aus und hat den jugendlichen Schalk behalten. Natürlich war die Frage keine, sondern die Zusammenfassung zum Schweizer Verhältnis im Umgang mit Geschichte – gerade mit dem Zweiten Weltkrieg. Eine Antwort erwartet er gar nicht. Es werden spannende zwei Stunden. Am Tisch nebenan liest eine junge Frau «Pour les générations futures» von Simone Veil. Der faszinierende Essay über eine Begegnung von 1954. Weniger als zehn Jahre nach ihrer Rückkehr aus Auschwitz hatte die Überlebende des Holocaust, in dem sie ihren Vater, ihre Mutter und ihren Bruder verlor, und zukünftige Präsidentin des Europäischen Parlaments bereits diese Herausforderung der Versöhnung im Sinn. Dies betonte sie im April 2005 bei einem Vortrag vor den Studenten der École normale supérieure, auf dem das Buch basiert und gerade im Kontext der aktuellen politischen Entwicklungen eine neue Relevanz bekommt. Auf dem Weg zu einer Ausstellung beim Jardin de Luxembourg wird klar: «Was läuft eigentlich in Zürich mit Bührle» war mit Ausrufezeichen gesagt. Mit dem Imperativ, der eine aufgeklärte Gesellschaft einfordert und nicht verhandelt werden muss. Stadtpräsidentin Corine Mauch hat Zürich in ein nicht enden wollendes Desaster gelockt, das seit dem 7. Oktober von weiteren Themen im Umgang auch mit der jüdischen Gemeinschaft von Zürich begleitet wird. Die von Grünen und SP geforderten Zahlungen Zürichs an das palästinensische Flüchtlingswerk UNRWA, die laufenden Klagen gegen die Leitung des Theaters Neumarkt nach der Entlassung eines jüdischen Schauspielers und die von der Zürcher FDP-Fraktion zur Disposition gestellte Kulturförderung des Theaters kontextuieren die laufenden Gespräche von Stadt, Kunsthaus und Kunsthaus-Stiftung mit der Bührle-Stiftung und den -Erben. Hinter den Kulissen wird navigiert, evaluiert und gespinndoktort, als ob die Lokalpostillen Kausalitäten umgehen, eine klare Haltung umgehen und Verantwortlichkeiten ändern würden. Simon Veil lebte als Politikerin vor, was es bedeutet, Haltung als politisches Programm zu formulieren. Opportunismus und Lüge müssen nicht Teil der Politik sein. «Die Gefahr besteht nicht mehr darin, dass man nicht über den Holocaust spricht, sondern dass man ihn missbraucht», schreibt Simone Veil und macht den Punkt für alle Akteure in der Causa Zürich, Neumarkt, UNWRA.Denn es geht eben längst nicht mehr um die Schoa als Schoa – sondern alles, was sich darauf bezieht. Wenn Corine Mauch in diesen Tagen auf die Dossiers im Kontext von Juden, Israel und Historie auf ihrem Bürotisch im Stadthaus blickt, im Austausch mit Exponentinnen und Exponenten aller Seiten zu integren Konklusionen kommen möchte – falls das überhaupt noch möglich sein sollte – und nicht ohnehin der Rücktritt ansteht, dann wäre gerade in der Sache Bührle Haltung, Demut gefragt, denn: Vieles von dem, was der Bericht der Untersuchungskommission von Raphael Gross zehn Jahre später vorgebracht hat, hat Mauch 2014 Zürichs Stimmbevölkerung vorenthalten und führte zum Ausrufezeichen von Paris.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann