Das Jüdische Logbuch 21. Sep 2018

Das andalusische Kaddisch

Sevilla, September 2018. Die Gassen der Altstadt hoch oben sind mit Tüchern gegen die brennende Sonne überdeckt. Unweit der Plaza de los Terceros klingen aus einer Haustür hebräische Gesänge. Die Türe ist angelehnt. Im Erdgeschoss des Hauses befindet sich das Gebetshaus von Sevilla. Sechs Männer haben sich zum «schabbat schuwa» zusammengefunden und sprechen gerade die Kedduscha zu Schacharit. Es folgen das Leinen und das Mussafgebet. Alles nach sephardischem Ritus. Die Männer sitzen im Kreis und sprechen alle Gebete zusammen laut. Noch rund 80 jüdische Familien leben in der Hauptstadt Andalusiens. Viele sind in den letzten Jahrzehnten oder nach der Schoah eingewandert. Von allen historischen Synagogen ist keine mehr in Gebrauch, die, einst als Moscheen gebaut, im Mittelalter von Juden als Synagogen benutzt worden waren. Die Inquisition und die im Alhambra-Verdikt von 1492 beschlossene Vertreibung oder der Zwang zur Konversion durch die katholische Kirche setzten dem blühenden jüdischen Leben ein jähes Ende. Von den einst 33 historischen Synagogen, zusätzlich gab es Tauchbäder und Lehrhäuser mitten in der Altstadt, ist keine mehr in Gebrauch. An der Plaza Cruz stand die grösste, die sogenannte Frauensynagoge, die von den Franzosen zerstört wurde. Alle anderen alle sind als Kirchen umgenutzt worden. Doch die ehemaligen Synagogen sind nach wie vor erkennbar. Unter ihnen befinden sich Prachtbauten wie die Synagoge und heutige Kirche Barholomeo oder jene in der Strassen der Bäcker. Das Judenviertel Judería befindet sich am Fusse des Palastes des spanischen Königs. Ähnlich wie in muslimischen Ländern standen die Juden unter dem Schutz der Monarchie. Einst war das Viertel von einer Mauer zum Schutz der Juden umgehen. Zugleich mussten die Juden eine spezielle Steuer bezahlen. Viele waren angesehene und für die Stadt wichtige Kaufleute, die es zu grossem Reichtum brachten, was bis heute sichtbar ist. An die Mauer erinnert nur noch eine Passage inmitten einer Gasse. Der Rest wurde im 19. Jahrhundert niedergerissen. Ebenso ist der jüdische Friedhof am Rande des Palasts umgegraben, und die Grabsteine sind ins städtische Museum verlegt worden.

Das Mussafgebet in der kleinen Synagoge ist beendet. Die Männer sprechen das Kaddisch und legen die Gebetsmäntel zur Seite. Der Präsident der Gemeinde spricht den Kiddusch. Danach laufen die Männer in alle Richtungen durch die Gassen, bevor sie auf die Gebetszeiten zum bevorstehenden Jom Kippur verweisen. Dann wird die Synagoge von spanischen Juden aus Stadt und Region überlaufen. Denn Touristen können das Gebetshaus kaum finden. Gäste werden herzlich und offen empfangen. Doch an Massen ist die Gemeinde nicht interessiert. Der Spaziergang durch die Altstadt, durch die Parks, entlang von Palästen und Gärten, ist ein Gang durch die Kultur-, Religions- und Handelsgeschichte der spanischen Herrschaft. Und er offenbart die bedrückende Schönheit einer Stadt, für deren Beschreibung oft schlicht die passenden Adjektive fehlen. Die Atmosphäre ist unaufgeregt, das jüdische Viertel Zentrum für Besucher aus aller Welt und gleichsam nur für jene erkennbar, die sich dafür interessieren. Wenig erinnert offensichtlich an die Blütezeit jüdischer Präsenz im Mittelalter, und doch sind Gebäude, Erinnerungsstücke überall präsent. Viel wird getan, um an diese Zeit zu erinnern, mittlerweile auch mit Unterstützung der Behörden und Stadt.

Die ethnischen Säuberungen von 1492 hatten eine über 400 Jahrhunderte nahezu «judenlose Zeit» in Spanien zur Folge. Die Vertreibung zerstreute die damals 100 000 Juden – diejenigen, die nicht auf den Scheiterhaufen in Flamen aufgingen – in den ganzen Mediterranen Raum, einige gingen auch nach England, Amsterdam oder Osteuropa.

In diesen Wochen läuft die Frist ab, innerhalb von welcher sephardische Jüdinnen und Juden aus einst vertriebenen Familien die spanische Staatsbürgerschaft erwirken können. Viele haben das getan. Vor allem auch solche, die heute in Israel und der Türkei leben.

Andalusien war über Jahrhunderte ein Zentrum des jüdischen Lernens, der Dichtung und der Exegese. Wie in den Mittelrheingemeinden oder dann später in Osteuropa sollte die Lehre über Jahrhunderte wichtige Werke hervorbringen. Von Toledo und Córdoba bis Granada und Sevilla bildete sich eine strahlende jüdische Gemeinschaft, die über eine lange Epoche ein Leben weitgehend frei von Verfolgung oder Ausgrenzung führen und entwickeln konnte. Wenngleich das goldene Zeitalter in der Nachbetrachtung oft mythologisiert und Probleme verkannt werden, wird es zu Recht als eine der Blütezeiten gewürdigt. Die Stiftung Tres Culturas im prächtigen marokkanischen Pavillon der einstigen Weltausstellung in Sevilla arbeitet neben dem kleinen jüdischen Museum der Altstadt diese Epoche auf und hat ein aktives Programm in Würdigung der jüdischen Kulturen im Austausch mit der muslimischen und mitunter auch christlichen Kultur etabliert. Seit 25 Jahren entfaltet die Organisation Programme, Aktivitäten und Forschungsprojekte. An diesem Tage sitzt André Azoulay im Raum unter der prächtigen Kuppel und würdigt den Ort als einer der «Résistance». Hierher spannt sich ein Bogen seit dem zwölften Jahrhundert, als der grosse andalusische Gelehrte Maimonides (Rambam) Ägyptens König und den Sultan als Leibarzt beriet. Azoulay stammt aus der marokkanischen Hafenstadt Essaouira und ist Berater des amtierenden marokkanischen Königs Mohammed VI. – bereits von dessen verstorbenen Vater. Er präsidiert an diesem Tage eine Konferenz, die die drei abrahamitischen im Kontext der technologischen Entwicklungen betrachtet. Am Abend eröffnet das Teatro de la Maestranza die Saison mit einer Würdigung des 100. Geburtstags von Leonard Bernsteins, mit seiner Komposition «Kaddisch» und einem rezitierten Text des 2013 verstorbenen Holocaust-Überlebenden Samuel Pisar. Seine Witwe Judith und seine Tochter Lea Pisar lesen den Text. Auf der Bühne sind mit Orchester und Chor über 180 Menschen unter der Leitung des amerikanischen Dirigenten und Bernstein-Schülers John Axelrod vertreten. Er lebt und fungiert seit rund neun Jahren als Leiter des Orchesters von Sevilla, jener Stadt, die in über 250 Opern ein Schauplatz und in die Musikgeschichte eingegangen ist. Zu Beginn des Abends präsentiert das Orchester eine neue Komposition «Sefarad» mit Soloquitare. Symbol für die Verbindung von jüdischer und spanischer Kultur. Vielleicht ein Akt der Nostalgie in ein einem Land, in dem die jüdische Kultur und die mittelalterlichen Philosophen und Dichter von Solomon ibn Gabirol, Menachem Saruq, Jehuda Halevy oder Moses Ibn Esra nachklingen. Von letzterem liest sich passend zu den hohen Feiertagen der Jamim Noraim in einem Gedichtband aus dem 11. Jahrhundert: «Ein Buch ist ein Freund, der deine Fähigkeiten aufdeckt. Er ist ein Licht in der Finsternis und ein Vergnügen in der Einsamkeit. Es gibt und es nimmt nicht.» Und so ist die Geschichte der Juden Spaniens und ihr Werk eingeschrieben in den Schriften und Büchern für immer.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann