das jüdische logbuch 17. Mär 2023

Berliner Schnauze und «Bibis Bombe»

Berlin, März 2023. Ein ungebetener Gast ist spät Mittwochnacht in Berlin zum Staatsbesuch eingetroffen. In Charlottenburg staut sich der Verkehr noch mehr als sonst. Die Sicherheitsmassnahmen und ein Aufgebot von 4000 Polizisten sind enorm. Israels Premier Binyamin Netanyahu ist mit Sicherheitsthemen angereist (vgl. Seite 10). In Berlin mochte er vorwiegend über Irans Atombombe sprechen, die beim Gespräch mit Beobachtern in der Hauptstadt entlarvend «Bibis Bombe» genannt wird. Wenn die geopolitische Lage in der Welt und Nahost (vgl. Seite 7) nicht so ernst wäre, wäre die Pointe noch unterhaltsamer. Denn in Berlin und anderswo möchte man über Netanyahus Bedrohung der Demokratie sprechen – dieser verkürzte seinen Besuch und reiste Donnerstag einen Tag früher als geplant wieder ab. Netanyahu macht jeweils Politik mit den Feinden Israels, mit den Juden allerdings hat er so nicht gerechnet. Auf diese ist in diesen Tagen mehr Verlass als auf die Israeli, wenn es darum geht Demokratie zu schützen, zu stärken und Gegenentwicklungen – wo auch immer – anzumahnen. Immerhin etwas. Weltweit verschärfen sich innerjüdische Proteste. Spender, Investoren und klassische Solidarpartner ziehen sich zurück. Netanyahu allerdings pokert hoch. Sein Kalkül: Irans atomare Bedrohung soll die Debatte um «Reformen» bzw. die antidemokratische, rassistische, faschistoide, rechtsextreme Koalition in den Hintergrund drängen, vielleicht sogar vom Tisch wischen und Netanyahu aus dem Schlamassel retten. Ein gefährlicher Plan. Indessen sprechen amerikanische Beobachter in einer Telefonschaltung mit der Redaktion von Mittwoch auf Donnerstag von Informationen aus dem Umfeld von Präsident Itzchak Herzog, dass er eine Scharade mit Netanyahu anstrebe. In Berlin indessen ist die Nervosität hinsichtlich einer «richtigen» Positionierung zu spüren. Die deutsche Regierung unterstützt die Demokratiebewegung in der Ukraine und tut sich schwer, mit der Gegenbewegung in Israel umzugehen. Da übernehmen jüdische und andere Organisationen, die im Vorfeld und während des Besuchs Netanyahus in Berlin klare Zeichen setzten und die Sorge um Israels Demokratie sowie die Spaltung der Gesellschaft ebenso benennen wie wöchentlich Menschen auf den Strassen weltweit und inzwischen auch in der Schweiz (vgl. Seite 6). Der deutsch-israelische Historiker Moshe Zimmermann brachte das Gefühl vieler in dieser Woche auf den Punkt: «Es wäre für mich eine gute Reise, wenn sie nicht stattgefunden hätte. Punkt.» Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, kritisierte Israels Koalition bereits im Januar lautstark und fügte im Hinblick auf den Staatsbesuch an: «Jüdische Werte sind in ihrem Kern demokratisch und zum Wohle des Einzelnen und der Gesellschaft ausgerichtet. Jüdinnen und Juden in aller Welt sind stolz darauf, dass der jüdische Staat die einzige Demokratie im Nahen Osten ist. Ein Abbau demokratischer Strukturen wäre auch für die jüdische Gemeinschaft ausserhalb Israels nicht akzeptabel.» Schuster sollte Netanyahu am Rande der Gedenkveranstaltung an der Holocaust-Gedenkstätte Gleis 17 treffen. Was denn sonst. An die Vergangenheit erinnern ist dann doch wichtiger als die Gegenwart zu retten.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann