das jüdische logbuch 17. Mai 2024

Arabische Thora statt jüdische Stimmen

Berlin, Mai 2024. Die Uni-Proteste dieser Tage machen klar, dass die jahrelange Entkoppelung von Politik, die weitgehende Entpolitisierung der jüdischen Studentinnen und Studenten und ihre Einbindung in jüdische Gemeinden oder Verbände gerade in der Schweiz fatal war. Die einst so blühenden Studentenschaften in Basel, Zürich, St. Gallen, Genf und des nationalen Verbands sind nahezu inexistent. In den aktuellen Debatten in Universitäten haben sie anders als in den USA oder anderen Ländern Europas keine Stimmen. In den letzten Jahren hat man sich lieber Programmen mit Fokus Partnersuche und allenfalls noch ein wenig falsch verstandene Hasbara oder dem Zionismus zugewendet und die Unabhängigkeit völlig aufgegeben. Von Lausanne, Genf, Bern, Basel bis Zürich sind keine jüdischen Exponenten zu vernehmen, was nicht mit Angst vor Repression alleine erklärt werden kann. Im Leseraum in der Staatsbibliothek sitzen an diesem Tag wieder Dutzende Studentinnen und Studenten, darunter auch jüdische und israelische. Sie studieren. Die Stille im Raum hat in diesen Zeiten etwas Besänftigendes. Auf dem Tisch liegt ein Faszinosum und zugleich Lehrstück für die Gegenwart. Es ist eine jahrhundertealte Abschrift einer Übersetzung der Thora auf arabisch in hebräischer Schrift. Die Übersetzung von Saadja Gaon blieb lange der Standardtext für die Juden in den arabischen Ländern. Der Philosoph war in Ägypten geboren, lebte später in Babylon und gilt bis heute einer der wichtigsten jüdischen Gelehrten und war Schuloberhaupt der Talmud-Akademie von Sura am unteren Euphrat. Die Juden der Diaspora bedienten sich der Landessprache ihres jeweiligen Aufenthaltsortes. Nicht anders als heute. Bis heute sprechen Jüdinnen und Juden aus arabischen Ländern unter sich arabisch. Der Kontrast zur Gegenwart könnte nicht grösser sein. Ein Haus weiter unter den Linden sind die Pro-Palästina-Proteste an der Humboldt-Universität mit teils antisemitischen Grenzüberschreitungen abgeklungen. Doch im kratzigen Berlin poppen die Proteste stets wieder auf. Die Proteste an den Universitäten zeigen die Dilemmata zwischen Überforderung, Ohnmacht, Empörung und Austarieren beim Suchen nach Lösungen. Die einen fordern nach einem raschen Eingreifen der Politik, die anderen setzen auf Dialog. Der Gesellschaftsvertrag wird täglich neu verhandelt. Klar ist aber auch, dass die völlige Entpolitisierung, die Entkoppelung von politischen Ebenen gerade in der jüdischen Jugendarbeit der Schweiz weit über die Studentenschaften hinaus zeigt, dass der Rückzug in den letzten – besseren – Jahren nun ein Vakuum offenbart. Da sind viele Jahre pädagogischer Arbeit nötig, um für politische und Gesellschaftsanliegen zu sensibilisieren, und zwar am Besten durch die Jugend selbst. Man mag zur «letzten Generation» stehen, wie man will. Sie hat allerdings gezeigt, dass die Selbstpolitisierung über Übernahme von Verantwortung aus der jungen Generation selbst entstehen und wichtige Bewusstseinsänderungen etablieren kann. Irgendwann muss man vom Leseraum auf die Strasse – also in die Res Publica. Ohne Ideologie, aber mit Verstand. Sonst setzen sich falsche Ideologien durch.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann