Das Jüdische Logbuch 22. Feb 2019

Anitsemitismen und Judenschlagzeilen

Paris, Februar 2019. Was ist real und was ist medial? Wann wird medial real oder umgekehrt? In diesen Tagen stellt sich die Frage erneut. Längst hat sich die Medialisierung der jüdischen Gemeinschaft von deren Alltag abgekoppelt und überlagert diesen zugleich. Die letzten Tage zeigen die Zuspitzung von Entwicklungen, die real und medial sind. Da die verbalen Attacken auf den französischen Philosophen Alain Finkielkraut in Paris bei einer Demonstration der «Gilets jaunes», die Schändung von Grabsteinen im Elsass, die Solidaritätskundgebung gegen Antisemitismus in Frankreich und das jährliche Galadiner des der jüdischen Dachorganisation Frankreichs mit der Reden von Präsident Emmanuel Macron, die eine ganze Reihe von Massnahmen gegen Antisemitismus und Rassismus ankündigte. So ein neues Gesetz gegen die Hassrede im Netz (tachles online berichtete; vgl. Seite 8, 12). Dort die eskalierende Debatte zwischen Polen und Israel, die zum Platzen des für letzten Montag anberaumten Gipfels der Visegrad-Gruppe in Israel führte und eine spannende Kontroverse zutagefördert, die auch viel mit dem jüdischen Selbstverständnis zu tun hat: Ist Polens Darstellung der eigenen Verwicklung in den Holocaust eine Relativierung der Geschichte und in ihrer Verleugnung geradezu antisemitisch, so wie etwa grenzüberschreitende antizionistische Kritik judenfeindlich sein kann? Während tags darauf Premier Binyamin Netanyahu mit dem Autokraten Viktor Orbán den Handschlag in Jerusalem zelebriert, um dann am Donnerstag den Zusammenschluss seiner Partei Likud mit der rechtsextremen Koalition namens Jüdische Macht im Hinblick auf die bevorstehenden israelischen Wahlen zu verkünden. Dort wiederum der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn, der Israel-Kritik geradezu zum Wahlprogramm der Torries deklariert und zugleich Protestaustritte von Regierungsmitgliedern provoziert. Naturgemäss weniger Aufmerksamkeit erhalten wiederum unaufgeregtere Themen wie etwa die Inauguration des neuen Buches «Connaître la religion de l’autre». Rabbiner, Priester, Pfarrer und Imame versuchen die eigene Religion ins Verhältnis zur anderen zu setzen und ein gesellschaftliches Miteinander davon abzuleiten, das entlang von Gesetz und Gesellschaftsvertrag möglich ist. Ein Unterfangen, das zugleich Anlass bietet, berechtigt kritische Fragen im Collège des Bernardins in Paris zu diskutieren. Irgendwann allerdings werden die aufgeheizten Schlagzeilen wieder weniger und in der Realität der Zivilgesellschaft der eine oder andere wirkliche Kollateralschaden abgearbeitet werden müssen in einer Debatte, die fälschlicherweise die (die Entwicklungen in den USA ausklammernde) Frage stellt, ob jüdisches Leben in Europa weiterhin möglich sein wird oder nicht. Eine Frage, von der ganze Lobbyorganisationen gut leben und die letzten Jahrzehnte der Etablierung jüdischen Lebens nach der Schoah nicht stärken. Mit offenen Augen auf real existierende Probleme zugehen, wird jene Zukunft weiterhin festigen, die zurzeit Israels Ideologen gegen die jüdische Gemeinschaft in Europa anführen und viele Antisemiten den Juden verweigern möchten – die aber nie erfolgreich damit sein werden.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann