Mit der Ausstellung «20 & 20 – Eine eigene Linse» würdigt das Anu-Museum in Tel Aviv zeitgenössische und wegweisende Pionierinnen der Fotografie.
Das Anu-Museum des jüdischen Volkes in Tel Aviv ist weltweit das einzige Museum, das sich der Geschichte des jüdischen Volkes von der biblischen Zeit bis zur Gegenwart widmet. Die Umbenennung des Diaspora-Museums auf den neuen Namen «anu», hebräisch für «wir», fand 2021 statt, um die grosse Vielfalt des jüdischen Lebens und der jüdischen Geschichte besser zu repräsentieren und die fortlaufende Geschichte des jüdischen Volkes in den Fokus zu rücken.
Mit der Ausstellung «20 & 20 – Eine eigene Linse» würdigt das Anu-Museum 20 wegweisende Pionierinnen der Fotografie sowie 20 talentierte zeitgenössische Fotografinnen. Es ist weltweit die erste Ausstellung dieser Art, die Fotografinnen in diesem Umfang eine Plattform bietet.
Eroberung einer männlichen Domäne
Der Beginn der Fotografie wird auf das Jahr 1839 datiert, mit der öffentlichen Vorstellung der Daguerreotypie durch Louis Daguerre. Joseph Nicéphore Niépce hatte bereits 1826 das erste dauerhafte Foto, den «Blick aus einem Fenster in Le Gras», aufgenommen. Beide legten mit ihren Langzeitbelichtungen den Grundstein für die bildhafte Erfassung. In ihren Anfängen war die Fotografie «männlich» und wurde primär als technisches Handwerk angesehen. Diese eindimensionale Wahrnehmung bot experimentierfreudigen Frauen eine Chance, aus ihrem Schattendasein herauszutreten und die männliche Domäne zu erobern, umso mehr, als die Brutalität und der Irrsinn des Ersten Weltkriegs alles veränderten und die bisherige europäische Ordnung erschütterten. Vor diesem Hintergrund entstanden in allen Kunstbereichen neue Strömungen, so auch in der Fotografie. Es war der Auftakt für das «goldene Zeitalter der Moderne». Viele Fotografinnen wurden von den neuen Strömungen ihrer Zeit massgeblich beeinflusst: Dada, Futurismus und Surrealismus. Frauen traten als experimentierfreudige Wegbereiterinnen hervor, verdienten gar ihren Lebensunterhalt mit der Fotografie, bereisten die Welt und präsentierten ihre Sicht auf die Welt auf internationalen Ausstellungen.
Zwischen den beiden Weltkriegen dokumentierten Frauen politische und gesellschaftliche Umbrüche. Das goldene Zeitalter der Frauenfotografie war nur von kurzer Dauer, denn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begannen Männer, auch dieses Feld wieder zu dominieren, und als sich die Fotografie auch in der Kunstwelt etablieren konnte, verdrängten Männer die Fotografie-Pionierinnen gänzlich: Ihre fotografischen Beiträge fanden kaum noch Beachtung und ihre Namen gerieten bis auf wenige in Vergessenheit.
Die Fotografinnen
Widmen wir uns den Fotografinnen der Ausstellung etwas näher, von denen einige auch im Widerstand gegen die Nationalsozialisten aktiv waren. Das fotografische Werk der ungarisch-jüdischen Fotografin Éva Besnyő (1910–2003) ist von der Moderne gleichermassen wie von Faschismus, Nationalsozialismus, Verfolgung und Emigration geprägt. Als Eva Besnyő gerade 20-jährig mit einer Gesellenprüfung des angesehenen Budapester Porträt- und Werbeateliers Jozsef Pécsi im Gepäck in Berlin eintraf, hatte sie bereits zwei folgenreiche Entscheidungen in ihrem Leben getroffen: Das Fotografieren zu ihrem Beruf zu machen und dem faschistischen Ungarn für immer den Rücken zu kehren. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre engagierte sie sich kulturpolitisch, so auch 1936 bei der Anti-Olympiade-Ausstellung «D-O-O-D», eine Abkürzung für «De Olympiade onder diktatuur» («Die Olympiade unter der Diktatur»). Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen im Mai 1940 musste Eva Besnyő sich verstecken. Dank eines fingierten Ahnennachweises gelang es ihr 1944, sich als «Halbjüdin» «entjuden» zu lassen. Ihr Überleben rettete auch die Foto-Arbeiten, die «spek- en boterfoto’s» («Speck- und Butterfotos»). Wie viele Fotografinnen und Fotografen ihrer Generation tendierte sie in den Nachkriegsjahren zu einer neorealistischen Kamerasprache. Ihr fotografisches Œuvre beeindruckt durch stilistische Modernität und thematische Vielfalt. Ihr politisches Denken war trotz schmerzlicher persönlicher Erfahrungen ihr ganzes Leben von der Maxime einer humanistisch geprägten Gesellschaft bestimmt.
Julia Pirotte (1908–2000) dokumentierte bedeutende Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs, beteiligte sich in Marseille am französischen Widerstand und dokumentierte die Befreiung der Stadt. Nach dem Krieg kehrte Pirotte nach Polen zurück, ihrem Geburtsland, wo sie am 4. Juli 1946 das Pogrom von Kielce dokumentierte. Julia Pirotte leistete einen bedeutenden Beitrag zur Kriegsfotografie, ihre Arbeiten wurden international ausgestellt, unter anderem auch im Mémorial de la Shoah in Paris.
Maria Austria (1915–1975) war eine in Österreich geborene Fotografin. 1937 floh sie in die Niederlande, um dem zunehmenden Antisemitismus zu entgehen. Während des Zweiten Weltkriegs engagierte sie sich im niederländischen Widerstand und fälschte Ausweispapiere. Von Maria Austria stammen berühmte Bilder von Anne Franks Versteck.
Claude Cahun (1894–1954) war eine französische Künstlerin und Vertreterin des Surrealismus als Fotografin, Darstellerin, Aktivistin und Schriftstellerin. Während des Zweiten Weltkriegs war auch sie im Widerstand aktiv. Cahun verbreitete zudem scharfsinnige Anti-Nazi-Propaganda. 2007 kuratierte der britische Musiker und Schauspieler David Bowie (1947–2016) eine Ausstellung von Claude Cahuns Arbeiten in New York.
Die deutsch-jüdische Fotografin Lore Krüger (1914–2009) kämpfte ebenfalls im Widerstand. Vor dem Zweiten Weltkrieg arbeitete sie dokumentarisch, nach der Machtübernahme der Nazis verliess sie gezwungenermassen ihre Heimat und studierte Fotografie zunächst in London, anschliessend in Paris. Während der deutschen Besatzung Frankreichs wurde sie in ein Internierungslager überstellt, konnte aber dank gefälschter Dokumente in die USA fliehen, wo sie ihren fotografischen Fokus auf Porträts von Intellektuellen und politischen Exilanten legte. Nach Kriegsende kehrte sie mit ihrer Familie nach Ostdeutschland zurück. Gesundheitliche Gründe zwangen Lore Krüger, ihre Arbeit als Fotografin aufzugeben. Fortan arbeitete sie als Literaturübersetzerin. Zu ihren Übersetzungen vom Englischen ins Deutsche gehören auch «Robinson Crusoe» von Daniel Defoe, «Die Abenteuer des Tom Sawyer» und «Die Abenteuer des Huckleberry Finn» von Mark Twain.
Die aus einer jüdischen Wiener Familie stammende Lisette Model (1901–1983) gilt als eine der einflussreichsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Nach ihrer Emigration nach New York 1938 arbeitete sie für das renommierte Magazin «Harper’s Bazaar». In ihren Fotografien fing sie die vielfältigen Facetten des urbanen Lebens ein: die Armut der Lower East Side, die Upperclass bei ihren Vergnügungen und das Nachtleben in Bars und Jazzklubs. Während der McCarthy-Ära war Lisette Model eine einflussreiche Fotografie-Dozentin. Zu ihren Studentinnen gehörte auch Diane Arbus, später bekannt für ihre fesselnden Schwarzweissfotografien von Kindern, Künstlern und berühmten Persönlichkeiten sowie für ihre Porträts von Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben.
Lucia Moholy (1894–1989) war Publizistin, Fotografin und Dokumentaristin. Als Ehefrau von László Moholy-Nagy trug ihre fotografische Dokumentation wesentlich dazu bei, dass die künstlerischen Ideen und Inhalte der Bauhaus-Hochschule an die Öffentlichkeit getragen wurden. Es sind ihre Fotografien, die bis heute unser Bild vom Bauhaus prägen, wobei viele ihrer Aufnahmen fälschlicherweise anderen zugeschrieben werden. So auch ihrem Ehemann László Moholy-Nagy, dem Vater der «Neuen Fotografie» und stellvertretenden Direktor der Bauhaus-Schule.
«20 & 20 – A Lens of Her Own» würdigt auch die Grande Dame der Fotografie, Gisèle Freund, welche 1908 im Berliner Stadtteil Schöneberg geboren wurde. Ihre Arbeiten zur Geschichte und Theorie der Fotografie werden vorgestellt und in einem Video kommt sie auch selbst zu Wort. Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Frankreich zwang Freund 1940 zur Flucht ins Departement Lot, von wo sie 1942 nach Südamerika emigrierte, wo sie in Argentinien, Chile und Mexiko lebte und an Bildreportagen arbeitete, in Zusammenarbeit mit der legendären Fotoagentur Magnum Photos.
Israelische Fotografie
Auch Liselotte Grschebina (1908–1994) wurde in Deutschland geboren und gilt als eine der Schlüsselfiguren der israelischen Fotografie. Ihre von modernistischen Einflüssen geprägten Arbeiten fangen den Pioniergeist der frühen israelischen Gesellschaft ein und konzentrieren sich auf Stadtentwicklung, Kibbuz-Leben sowie soziale Themen. In ihren Fotografien verbindet Grschebina künstlerische Innovation mit dokumentarischem Realismus.
Die israelisch-amerikanische Fotografin Loli Kantor, geboren 1952, setzt sich intensiv mit jüdischer Identität und Geschichte auseinander. «Nenn mich Lola» ist eines ihrer Projekte, in dem sie über das Leben und Vermächtnis ihrer Mutter reflektiert. Behandelt werden die Themen Erinnerung und Verlust. Einige ihrer Arbeiten wurden in renommierten Sammlungen, unter anderem im Museum of Fine Arts in Houston und im Galicia Jewish Museum, aufgenommen. Kantors Fotografien verbinden persönliche Erzählungen mit breiteren kulturellen Kontexten.
Die Fotos der Israelin Avishag Shaar-Yashuv, geboren 1990, fangen die Essenz des modernen Israel ein. Sie arbeitet für verschiedene führende israelische Printmedien sowie ausländische Publikationen. Seit Jahren dokumentiert sie verschiedene ökologische Gemeinschaften und Vereine in ganz Israel.
Weitere Fotografinnen, in deren Œuvre die Ausstellung «20 & 20 – A Lens of Her Own» Einblicke bietet, sind: Aenne Biermann, Dorothy Bohm, Gerti Deutsch, Trude Fleischmann, Laelia Goehr, Lotte Jacobi, Lou Landauer, Madame d’Ora, Grete Stern, Ellen Auerbach und Edith Tudor-Hart. Weitere Vertreterinnen zeitgenössischer Fotografie sind: Elinor Carucci, Michal Chelbin, Eileen Cowin, Deborah Feingold, Jill Greenberg, Gail Albert Halaban, Naomi Harris, YVA, Hannah Altman, Vardi, Kahana, Rachel Papo, Gillian Laub, Stacy Arezou Mehrfar, Meryl Meisler, Hally Pancer, Noa Sadka, Amy Touchette, Catrine Val und Rona Yefman. l
Öffnungszeiten: Samstag–Mittwoch, 10.00–17.00 Uhr, Donnerstag 10.00–20.00 Uhr, Freitag 10.00–14.00 Uhr.