Frank Stellas Werk «Jeziory» bietet dem Beobachter einen Einblick in den Wandel, die Erneuerung und die Widersprüche, die die jüdische Lebenserfahrung umfassen.
Im Rahmen des Europäischen Tages der jüdischen Kultur lädt das Jüdische Museum in Basel am Sonntag, 7. September, zu der Enthüllung seines neuen Frontispizes ein. Eine architektonische Reproduktion des Werkes «Jeziory» vom US-amerikanischen Künstler Frank Stella wird von nun an die Fassade des neuen Holzgebäudes zieren, in das das Museum anlässlich seines Umbaus umzieht.
Frank Stella wurde 1936 in Massachusetts als Sohn einer italienischen Migrantenfamilie geboren. Während seines Studiums an der Princeton University bekam er erste Einblicke in die New Yorker Kunstszene und begann sich mit ihr zu vernetzen. Ende der 1950er Jahre zog er schliesslich nach New York, wo ihn der damals herrschende abstrakte Expressionismus stark prägte. Mit seinen «Black Paintings», die Ende 1950er und Anfang 1960er Jahre entstanden, löste er sich jedoch zunehmend von dieser Strömung und wandte sich stattdessen dem Minimalismus zu, zu dessen Wegbereitern er bis heute gilt.
Mit nur 34 Jahren durfte Stella seine erste Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Arts (MoMA) ausstellen. Damit war er zu dieser Zeit der jüngste Künstler, dem ein Raum im MoMA für seine Retrospektive eingeräumt wurde. Bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr lebte und arbeitete Stella in New York.
Obwohl das Abstraktum Stellas Werk geprägt hat, sah er in diesem keinen Selbstzweck. Das Abstraktum bestehe für ihn vielmehr aus verschiedenen Formen und Farben, die in Beziehung zueinander treten. Aus diesem Zusammenspiel entstehe zwar keine eigenständige Geschichte, sondern vielmehr «ein erzählender Sinn» («narrative sense»), durch den sich Ideen und Vorstellungen vermitteln lassen.
Zerstörung und Erneuerung
In seiner Serie «Polish Village», die 1971 bis 1974 entstand, untersucht Stella die im Holocaust zerstörten Holzsynagogen Osteuropas. Jedes Werk dieser Serie trägt den Namen jenes polnischen Dorfes, in dem sich die entsprechende Synagoge befand. So ist «Jeziory» nach dem in der Nähe der westpolnischen Stadt Posen liegenden Dorf Jeziory benannt. Dort befand sich eine im Holocaust zerstörte hölzerne Synagoge, die Stella zu seinem Werk inspirierte.
In «Jeziory» verzichtet Stella auf die Unterscheidung zwischen dem Bild an sich und seinem Medium, welches aus Bruchstücken verschiedener Farben und Formen besteht. Diese bilden gemeinsam eine Betrachtungseinheit. Es bleibt daher im Ermessen des Betrachters zu beurteilen, ob es sich um ein zweidimensionales Bild oder ein plastisch abgehobenes Relief handelt. Das Zusammenspiel der vielfältigen Farben und der abstrakten Geometrie erscheint zuerst chaotisch und verwirrend, schafft aber gleichzeitig eine gewisse Ordnung und Regeln. In den durcheinander gesteckten geometrischen Bruchteilen sieht man einerseits Zerstörung, die intuitiv auf den Holocaust verweisen könnte. Andererseits kann man darin aber auch einen Prozess von Erneuerung sehen. Das aus den Bruchteilen entstandene Objekt entwickelt eine neue Struktur.
Sinnbild der jüdischen Erfahrung
In diesem Sinne ist «Jeziory» symbolisch für die jüdische Lebenserfahrung. Einerseits hatten die Juden – zumindest bis zur Staatsgründung Israels – keine feste Heimat. Das Jüdischsein musste sich durch Ausgrenzung, Verfolgung und Verluste immer wieder neu erfinden. Trotzdem entwickelte sich genau durch diese einzigartige Lebenserfahrung die moderne jüdische Identität, mit all ihren Widersprüchlichkeiten. Die stetige Neuerfindung und Selbstbestimmung, die auch in «Jeziory» ausgedrückt wird, bezeichnet auch das jüdische Leben in Zeiten globaler Zeitenwende und globaler Herausforderungen. Das mag für Juden selbstverständlich sein, doch Stella war kein Jude. Es ist daher umso erstaunlicher, wie er die jüdische Vergangenheit und Gegenwart in einer so nuancierten Weise begriffen und diese durch «Jeziory» und die anderen «Polish Village»-Werke vermittelt hat. Vielleicht ist dies der erzählende Sinn, den Stella in «Jeziory» bezweckte.