film 09. Mai 2025

Der virtuose Cineast

Der Regisseur Pierre Koralnik während der Dreharbeiten zum Film «La Reine de Saba» im Jahr 1975 im Iran.

Das Filmpodium Zürich ehrt den Cineasten Pierre Koralnik mit einer Retrospektive seiner Reportagen, Filme und Porträts – und einem Dokumentarfilm über den Regisseur.

Für den Filmemacher und Regisseur Pierre Koralnik reihen sich derzeit die Ehrungen und Retrospektiven aneinander. Nach Lausanne im November letzten Jahres und vor Paris im kommenden Juni präsentiert das Filmpodium Zürich ab dem 17. Mai neun seiner markantesten Filme.

Seit über 50 Jahren an den Ufern der Limmat beheimatet, spielte sich der wesentliche Teil seiner Karriere nichtsdestoweniger in der Romandie und in Frankreich ab. Zwischen 1962 und 1990 zählte er zu den bevorzugten Regisseuren des Fernsehens der französischsprachigen Schweiz in Genf und des Office de radiodiffusion télévision française (ORTF) in Paris. In Zürich seit den siebziger Jahren niedergelassen, setzte er seine Kamera in der Schweiz, in Frankreich, in Deutschland und auch andernorts in Gang und schuf mit ihr Filme aller Genres: Reportagen, Unterhaltung, Porträts und Fiktion. «Mit einer eklektischen Auswahl von neun Filmen ehrt das Filmpodium Zürich den visionären Schweizer Regisseur, dessen Karriere Spuren in der audiovisuellen Geschichte der Schweiz hinterlassen hat», kündigt das Filmpodium die Reihe an.

Kurzfilm über seine Laufbahn
Der Film «Pierre Koralnik, cinéaste et visionnaire» folgt den Spuren dessen, welchen Frédéric Maire, Direktor der Cinémathèque suisse, als «Filmemacher ohne Grenzen» bezeichnet. Gedreht vom deutschen Regisseur Christoph Weinert und produziert von Yves Kugelmann in Koproduktion mit RTS, der Cinémathèque und dem französischen Institut national de l’audiovisuel, wird dieses Werk in Zürich an beiden Abenden gezeigt. «Ich hoffe, dass der Film Ihnen gefällt, und ich entdecke ihn zur gleichen Zeit wie Sie», hatte der 87-jährige Koralnik bei der Premiere in der Cinémathèque suisse in Lausanne im letzten November erklärt. In einem Zug in Szene gesetzt, illustriert der Film das reichhaltige transnationale Schaffen des Filmemachers.

Jane Birkin, Françoise Hardy und viele mehr
Auf der Liste seiner Kurz- und anderen Filme finden sich eine Anzahl grosser Namen der siebten Kunst: Anna Karina, Jean-Claude Brialy, Jane Birkin, Serge Gainsbourg, Françoise Hardy, François Périer, Arielle Dombasle, Udo Jürgens, Curt Jürgens und so fort. Die Kurzfilme mit dem englischen Maler Francis Bacon, dem afroamerikanischen Schriftsteller James Baldwin und der amerikanischen Bildhauerin Louise Nevelson zogen internationale Aufmerksamkeit auf sich (siehe Kasten).

In der Stunde der Ehrungen, die seine Karriere krönen, könnte Pierre Koralnik legitimerweise seine Brust aufblähen. Aber er bleibt bescheiden. «Das erklärt auch, dass er teilweise unbekannt geblieben ist, vor allem in der Deutschschweiz», erläutert Yves Kugelmann, Journalist und Produzent der Dokumentation über ihn. «Bei meiner Mitarbeit in der Vorbereitung der Retrospektive habe ich realisiert, dass es nichts über ihn gibt. So kam das Projekt des Films zustande, der seine Laufbahn verfolgt und seinen Filmen wieder Sichtbarkeit verleiht.»

Für Frédéric Maire, den Direktor der Cinémathèque, hat die Tatsache, dass Koralnik fast nur Filme fürs Fernsehen machte, seine Bekanntheit begrenzt. «Und dennoch hat er sich auf einem ausserordentlichen Spielfeld entwickelt, ohne physische oder stilistische Limiten.» Der Film «Anna» beispielsweise, eine musikalische Komödie, zu der Serge Gainsbourg die Musik und Texte schrieb und die die Einschaltquoten des ersten französischen Fernsehens 1968 in ungeahnte Höhen schnellen liess, wurde erstmals 2023 in Paris in einem Kino gezeigt. Mehr als 50 Jahre nach der Produktion kam der Erfolg.

Als Flüchtling in der Schweiz
Pierre Koralnik wurde 1937 in Paris geboren. Seine Eltern, Juden aus dem Oman und der Ukraine – wo sich jedes Jahr Tausende jüdische Pilger beim Grab des Rabbi Nachman von Bratslav (1772–1810) einfinden – liessen sich in den 1920er Jahren in Warschau, dann in Berlin nieder. Als Hitler an die Macht kam, verliessen sie Deutschland und gingen nach Paris. Als die Nazis dort ankamen, zogen sie nach Marseille. «Meine Mutter und ich wurden im traurig-berühmten Camp des Milles interniert, für viele die Vorkammer für Drancy oder Auschwitz», erzählt Koralnik. Er und seine Mutter konnten aber fliehen, und die Familie konnte dank Schleusern in die Schweiz gelangen. «Jene, die keine Kinder hatten, wurden zurückgewiesen», sagt er. Nach einem Aufenthalt in einem Internierungslager liessen sie sich in Genf nieder.

«Ich liebte es, Filme zu sehen, ich wollte entweder Filmkritiker oder Regisseur werden», erklärt Koralnik in dem Film, der seine Karriere wiedergibt. Dank der Unterstützung insbesondere der Philosophin Jeanne Hersch, «eine herausragende Frau», der er bis zu ihrem Tod im Jahr 2000 verbunden blieb, konnte er an das Pariser Institut des hautes études cinématographique gehen und machte dort sein Diplom. Danach kam er in die Schweiz zurück. Auf Anfrage der Télévision romande startete er als unabhängiger Regisseur ab 1962 eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Sender. 1954 gegründet, spielte Télévision romande eine wesentliche Rolle in der Förderung der Pioniere des welschen Kinos. Der junge Koralnik befand sich in guter Gesellschaft, etwa von Claude Goretta, Michel Soutter, Alain Tanner oder Jean-Louis Roy und verdiente sich seine ersten Sporen mit Reportagen, Porträts und Unterhaltung. 1964, mit 27 Jahren, gewann er die Rose d’Or de Montreux mit dem Film «Happy End», ein Spielfilm, den er mit Jean-Louis Roy koproduziert hatte.

Zutiefst humanistisch
Ein polyvalenter Freigeist, arbeitete Koralnik ab 1965 auch für die französische ORTF, Vorgänger von TF1, France 2 und FR3, und realisierte seine ersten Fiktionen, darunter «Anna». Serge Gainsbourg, als Komponist der Filmmusik und Autor der Texte, teilte sich damals in Paris die Wohnung mit Pierre Koralnik. «Er hatte eben seine Frau verlassen und suchte eine Unterkunft. Er rauchte und trank damals schon. Aber wir haben sehr gut zusammenarbeiten können.» Auf die Frage nach der Auswahl der so unterschiedlichen Themen seiner Filme antwortet der Regisseur, dass es oft der Zufall von Begegnungen und Vorschlägen gewesen sei, der ihn angetrieben habe. «Ich wollte keine spezielle Botschaft weitergeben; an erster Stelle zogen mich der Aspekt des Spektakels und die Gelegenheit zum Kreieren an.»

François Vallotton, Professor für Gegenwartsgeschichte an der Universität von Lausanne, sagt über diesen «Erforscher aller Himmelsrichtungen»: «Seine zutiefst humanistische Perspektive manifestiert sich in seinem persönlichen Werdegang.»

Im Programm der Retrospektive unter www.filmpodium.ch, auf www.tachles.ch findet sich der aktuelle Podcast mit Pierre Koralnik. Der Dokumentarfilm «Pierre Koralnik – Cinéaste et Vissionaire» wird am 20. Mai um 18.15 Uhr im Filmpodium und in einer kurzen Fassung am 25. Mai in «Sternstunde Kunst» um 12 Uhr auf SRF gezeigt.

Francine Brunschwig