Nach der Rückkehr der Geiseln mit Ende des Krieges in Gaza bleibt die Frage, wohin Israels Innenpolitik steuert – doch diese Frage hängt eng mit Netanyahus persönlichem Schicksal zusammen, das er dem ganzen Land aufoktroyiert.
Mit dem Inkrafttreten des Waffenstillstands und der Rückkehr zumindest der letzten lebenden Geiseln aus der Gewalt der Hamas ist in Israel ein neues politisches Kapitel angebrochen – allerdings eines, das ebenso fragil wie umkämpft ist. Die Erleichterung über die Heimkehr der Entführten ist in der Bevölkerung spürbar, doch die innenpolitischen Konfliktlinien bleiben bestehen. Mehr noch: Sie drohen sich jetzt zu verschärfen. Für Premierminister Binyamin Netanyahu ist die Lage paradoxer denn je: Einerseits kann er sich als Garant für Sicherheit und Verhandlungen stilisieren, andererseits droht ihm der Rückhalt bei jenen Kräften zu entgleiten, auf deren Stimmen seine Koalition beruht.
In den Tagen nach dem Waffenstillstand wird deutlich, wie sehr sich der israelische Regierungschef in einem politischen Spagat befindet. Auf der einen Seite wächst international und auch in Teilen der israelischen Bevölkerung die Erwartung, dass die Regierung nun nicht nur kurzfristig agiert, sondern langfristig Verantwortung übernimmt: bei einer neuen Sicherheitsarchitektur, vor allem aber bei einer Aufarbeitung dessen, was am 7. Oktober und danach schiefgelaufen ist. Und jeder kennt natürlich die Antwort. Auf der anderen Seite stehen rechte Koalitionspartner wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, für die jede Verhandlung mit der Hamas oder eine Lockerung der militärischen Linie einen Tabubruch darstellt.
Forderung internationaler Partner
Netanyahu hat bislang versucht, beide Seiten zu bedienen. In der Öffentlichkeit tritt er als entschlossener Sicherheitsarchitekt auf, der eine Rückkehr der Hamas an die Macht in Gaza kategorisch ausschliesst. Gleichzeitig aber meidet er konkrete Aussagen darüber, wie er mit den Forderungen internationaler Partner umgehen will – insbesondere mit der Idee einer international überwachten Nachkriegsordnung in Gaza oder einer gestärkten palästinensischen Autonomiebehörde. Auch der Trump-Plan zur Nachkriegsordnung wird in der Regierungskoalition scharf beobachtet. Zu viele Punkte darin laufen den ideologischen Überzeugungen der rechtsradikalen Minister entgegen. Netanyahu könnte geneigt sein, zentrale Teile des Plans zu torpedieren oder zumindest zu verzögern – nicht aus aussenpolitischer Überzeugung, sondern zur Stabilisierung seiner innenpolitischen Machtbasis.
Diese Machtbasis ist jedoch längst brüchig geworden. Ben-Gvir, der Minister für nationale Sicherheit, hat den Waffenstillstand scharf kritisiert und von einem «schweren Fehler» gesprochen. Auch Smotrich, Finanzminister und Verfechter der Siedlungsexpansion im Westjordanland, sieht die aktuelle Politik der Regierung kritisch. Beide eint die Sorge, dass Netanyahu zu weit in die politische Mitte rückt und damit das rechte Lager verwässert. Sie drohen offen mit einem Koalitionsbruch, sollten Schritte erfolgen, die sie als Kapitulation vor der Hamas oder als Schwächung der israelischen Souveränität betrachten.
Netanyahus Machtbalance
Diese Drohungen sind einerseits Taktik, aber sie spiegeln andererseits auch reale politische Spannungen wider. Smotrich und Ben-Gvir haben in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass sie bereit sind, politische Eskalationen zu suchen, wenn ihnen die Richtung nicht passt. Dass sie nun den Rückhalt in Teilen der nationalreligiösen und ultrarechten Wählerschaft repräsentieren, macht sie für Netanyahus Machtbalance noch gefährlicher.
Netanyahu wiederum muss abwägen: Rückt er zu weit nach rechts, verliert er die politische Mitte – und damit jene Wählerschichten, die er für eine mögliche Wiederwahl braucht. Positioniert er sich hingegen zu moderat, laufen ihm die rechten Hardliner davon. Die Justizreform, lange Zeit zentrales Projekt seiner Koalition, könnte nun zur Testfrage werden: Will Netanyahu seine Basis stabilisieren, müsste er sie mit neuer Energie vorantreiben. Das würde aber neue Proteste im Land auslösen, die ihn weiter schwächen könnten – innenpolitisch wie international.
In diesem Kontext stellt sich auch die Frage, ob Netanyahu möglicherweise auf ein anderes, historisch bekanntes Instrument zurückgreift: die Sicherheitseskalation. Ein begrenzter Konflikt, etwa mit iranischen Stellvertreter-Milizen oder ein gezielter Schlag gegen iranische Infrastruktur, könnte ihm kurzfristig als politisches Druckmittel dienen. Er würde als starker Mann auftreten, könnte die politische Debatte auf nationale Einheit und Verteidigungspflicht lenken – und hätte damit möglicherweise einen Vorwand, Neuwahlen zu verschieben. Ein offener Krieg mit dem Iran ist allerdings hoch riskant und ohne US-Rückendeckung kaum realistisch. Dennoch: Kleine Operationen, die als Verteidigung interpretiert werden können, könnten schon reichen, um das innenpolitische Klima zu beeinflussen.
Opposition steht bereit
Hinzu kommt der Faktor Zeit. Netanyahu weiss, dass sich das politische Klima nach dem Waffenstillstand schnell verändern kann. Derzeit geniesst er einen kurzen Moment des Aufatmens in der Öffentlichkeit. Doch dies kann schnell kippen. Die Opposition unter Yair Lapid und Avigdor Lieberman steht bereit, jede Schwäche auszunutzen, ebenso Naftali Bennett, der laut Umfragen gute Chancen hätte, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Auch ehemalige Mitstreiter innerhalb des Likud könnten versuchen, sich in Stellung zu bringen, sollte Netanyahu in den Umfragen weiter verlieren.
Drei Szenarien zeichnen sich ab. Erstens, Netanyahu gelingt es, sich als Sicherheitsgarant zu profilieren, moderate Akzente zu setzen und gleichzeitig seine rechte Flanke durch Zugeständnisse ruhig zu halten – etwa durch den Ausbau von Siedlungen oder eine Teilumsetzung der Justizreform. Zweitens, es kommt zum offenen Koalitionsbruch. In diesem Fall wären Neuwahlen wahrscheinlich, die für Netanyahu zu einem politischen Überlebenskampf werden könnten. Drittens, die fragile Waffenruhe zerbricht, entweder durch erneute Gewalt in Gaza oder durch eskalierende Spannungen im Norden oder mit Iran. In diesem Fall würde sich die politische Debatte wieder auf Sicherheitsfragen konzentrieren – ein Feld, auf dem Netanyahu erfahrungsgemäss stark ist.
Alles offen?
Doch egal, wie sich die Lage entwickelt: Klar ist, dass der Waffenstillstand nicht der Beginn eines Friedens ist, sondern der Auftakt zu einem politischen Ringen um die Richtung Israels. Netanyahu wird sich entscheiden müssen, ob er weiter zwischen den Polen laviert – oder ob er endlich eine klare Linie zieht. In jedem Fall wird diese Phase darüber entscheiden, ob er sich noch einmal als starker Mann der israelischen Politik behaupten kann, oder ob die Koalition, die ihm zur Macht verhalf, am Ende seinen Sturz verursachen wird. Und ob dann Platz für neue Kräfte geschaffen wird, die Israel vielleicht auf einen völlig neuen Weg in die Zukunft führen könnten.