Bruria Wiesel Adini untersucht die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft, die angegriffen wird und sich selbst verteidigt.
tachles: Pandemie, Regierungswechsel und -krisen, die Massaker vom 7. Oktober 2023 und die nachfolgenden Kriege: Wie viel können Israelis an damit verbundenen Herausforderungen, Leid und Verlusten ertragen und bewältigen?
Bruria Wiesel Adini: Ich bin eine Holocaust-Überlebende der zweiten Generation. Meine beiden Eltern waren in Auschwitz; sie haben ihre gesamte Familie verloren. Sie waren in Lagern, aber sie haben überlebt. Sie haben ihre Familie wieder aufgebaut. Und ich bin das Beispiel dafür. Menschen haben also die Fähigkeit, ihr Leben an das anzupassen, was das Leben ihnen tatsächlich beschert. Es gibt Menschen, die aufgeben, weil sie keine Hoffnung mehr haben. Sie werden tatsächlich krank und sind nicht mehr in der Lage, damit fertig zu werden. Aber das ist nicht die Mehrheit der Bevölkerung.
Was sagen Ihre Daten über die Resilienz der Israelis aus?
Wir haben die Notlage in der Woche nach dem 7. Oktober gemessen, als es zu einem schrecklichen Angriff kam und alle Menschen in Israel unter Schock standen, am Boden zerstört waren und nicht begreifen konnten, wie so etwas passieren konnte. Aber gleichzeitig stieg sowohl die individuelle Resilienz als auch die gesellschaftliche Resilienz sehr stark an. Das Gleiche haben wir vor 12 Tagen gesehen, in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni, als Israel den Iran angegriffen hat. Wir haben erneut einen sehr deutlichen und statistisch signifikanten Anstieg der persönlichen Resilienz und der gesellschaftlichen Widerstandsfähigkeit beobachtet. Wir haben gelernt, dass mit steigendem Leid auch die Widerstandsfähigkeit zunimmt, nicht nur hier, sondern auch in anderen Gesellschaften, wie beispielsweise in der Ukraine während des Krieges. Denn man wächst mit der Situation und mobilisiert alle verfügbaren Ressourcen, alle Kräfte, sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene, um damit fertigzuwerden.
Aber es gibt nicht nur gute Nachrichten, insbesondere auf gesellschaftlicher Ebene. Ihre Studie bewertet vier Komponenten der gesellschaftlichen Resilienz: Patriotismus, Solidarität unter den Menschen, Vertrauen in die Regierung und den Premierminister sowie Vertrauen in öffentliche Institutionen wie die Knesset, die Gerichte, die IDF, die Polizei, das Bildungssystem und die Medien. Welche dieser Komponenten sind unter Druck?
Wenn Sie sich unsere Grafik zu den vier Elementen von der ersten Woche nach dem 7. Oktober bis Mitte Juni 2025 ansehen, sehen Sie, dass der Patriotismus im Vergleich zu den anderen drei Elementen am höchsten ist. Am niedrigsten ist das Vertrauen in die Regierung und den Premierminister, was die Spaltung innerhalb der israelischen Gesellschaft verdeutlicht.
Es gibt auch eine sehr, sehr tiefe Kluft zwischen den Befragten, die die Regierung unterstützen, und denen, die sie ablehnen. Eine der Fragen lautete beispielsweise: «Inwieweit sind Sie der Meinung, dass die Regierung alles Notwendige unternimmt, um die Geiseln zurückzuholen?» Während des gesamten Krieges haben wir eine sehr, sehr grosse Kluft zwischen den Wahrnehmungen derjenigen gesehen, die die Regierung unterstützen und der Meinung sind, dass die Regierung alles Notwendige tut, und den Gegnern, die das nicht glauben. Es gibt eine grosse Kluft zwischen diesen beiden Bevölkerungsgruppen. Das ist sehr besorgniserregend.
Inwiefern?
Weil dies in hohem Masse mit der Widerstandsfähigkeit der Gruppe als Ganzes zusammenhängt. Ich komme zurück auf den Gedanken der Hoffnung. Hoffnung ist die Grundlage für den Glauben, dass trotz grosser Widrigkeiten die Zukunft besser sein wird. Und hier sehen wir erneut einen erheblichen Unterschied zwischen dem Grad der Hoffnung derjenigen, die der Regierung vertrauen, und denen, die ihr nicht vertrauen. Hier herrscht das Gefühl, dass viele Behördenvertreter manchmal zu sehr eine politische Haltung einnehmen und nicht von einer gesellschaftlichen Position aus handeln, dass sie nicht auf die Bedürfnisse und Erwartungen aller eingehen, insbesondere nicht auf die der schutzbedürftigen Menschen.
Wie untergräbt dies die Resilienz auf gesellschaftlicher Ebene?
Das hat einen sehr hohen Preis gefordert. Während der schweren Krise im Oktober 2023 und sogar noch im November 2023 war dieser soziale Zusammenhalt sehr stark zu spüren, aber dann begann er zu schwinden, und der Rückgang ist sehr, sehr, sehr stark. Das ist sehr besorgniserregend, denn wenn wir hier überleben wollen, brauchen wir diesen Zusammenhalt – wie es in Israel so schön heisst: «bejachad nenatzeach», «gemeinsam werden wir siegen». Aber wenn wir nicht zusammenhalten, was sagt das dann über unsere Fähigkeit aus, all diese verschiedenen Widrigkeiten und Krisen, denen wir möglicherweise noch begegnen werden, tatsächlich zu bewältigen? Nach dem Angriff auf den Iran sehen wir jetzt einen leichten Anstieg des sozialen Zusammenhalts, aber er ist immer noch sehr, sehr weit von dem Niveau entfernt, das wir nach dem 7. Oktober hatten. Wir sind nicht in einer guten Lage, was die soziale Solidarität und den sozialen Zusammenhalt angeht, die zu den wichtigsten Ressourcen gehören, die wir brauchen, um effektiv zurechtzukommen. Eine laufende Studie der Tel Aviv University und des Tel Hai College zur gesellschaftlichen Resilienz in Israel hat in den fast zwei Jahren seit dem 7. Oktober 2023 vier Komponenten der gesellschaftlichen Resilienz gemessen: Vertrauen in die Regierung und ihren Führer, soziale Integration oder Solidarität, Patriotismus und Vertrauen in staatliche Institutionen. Die Befragten gaben Patriotismus als den Faktor mit dem höchsten Wert unter den vier an. Das Vertrauen in die Regierung blieb hinter den anderen Werten zurück.