Zwischen religiöser Symbolik von Jom Kippur, politischem Kalkül und unklaren Perspektiven steht der US-Vorschlag für einen «Neubeginn» in Nahost – doch die Realität in Gaza und Israel bleibt komplex, widersprüchlich und blutig.
Ausgerechnet zu Jom Kippur legte Donald Trump seinen 20-Punkte-Plan für den Gazastreifen vor. 20 Richtpunkte für einen Neubeginn im Gazastreifen. Israels Ex-Präsident Reuven Rivlin erinnerten sie einen Tag später an «Vidui», die Auflistung aller Sünden, deren Bekenntnis im gemeinschaftlichen Gebet den Aufbruch in ein besseres neues Jahr ermöglichen soll. Rivlin hob die Verfehlung des «staunenden Herzens» hervor, deren Sündhaftigkeit nicht unmittelbar zu verstehen ist. Vielleicht sind es ja die Ungläubigkeit und die Zweifel, die im Staunen durchschimmern. Auch beim Lesen der 20 Punkte.
Geiseln in Kerkern
Sie sind bewusst vage formuliert. Unklarheit in der klaren Absicht, beiden Seiten die Annahme zu erleichtern. Richtpunkte, die in der Theorie für beide Seiten annehmbar sind. Ihre Umsetzung in die Praxis wird dann aber im Detail noch viele Teufel auf lange Zeit beschäftigen. Zeit, die die Geiseln in ihren Kerkern nicht mehr haben. Auch nicht Gazas Zivilbevölkerung, die hin und her geschoben im zerbombten Gelände nach ersten Herbstschauern bereits den Winter spürt. Auch die Zeit der israelischen Reservesoldaten zerrinnt, denen das Zahnfleisch schwindet, auf dem sie bereits seit Monaten marschieren.
Der Hamas wird das von den USA und arabischen Staaten garantierte Ende des Krieges als Erfolg vorgelegt. Wie sie es seit Beginn der Ermittlungen fordert und was bislang immer wieder ein Abkommen verhinderte. Auch die internationale Aufmerksamkeit bis hin zur Anteilnahme wie auch die zum Teil direkten Verhandlungen mit der US-Regierung kann Hamas unter Haben verzeichnen. Was an der Kritik der konkurrierenden Dschihad-Bewegung deutlich wird. Sie sieht in den 20 Punkten ein «Programm Netanyahu», das sie rundweg ablehnt. Notfalls will die kleinere Islamismus-Schwester auch ohne Hamas weiterkämpfen. Blutige Erfahrungswerte zeigen, dass ihre Terrorzellen dazu durchaus in der Lage sind.
Theorie und Realität
Binyamin Netanyahu betonte vor allem die mit der Umsetzung des Plans einsetzende Entwaffnung und politische Entmachtung der Hamas im Gazastreifen als Erfolg. Obwohl die hier vorliegenden Erfahrungswerte keineswegs vielversprechend sind. So heisst eine Nichtteilnahme der Hamas an einer zukünftigen Regierung keineswegs Nichteinflussnahme. Selbst wenn alle bewaffneten Kräfte der Hamas aus dem Gazastreifen verschwinden sollten, was kaum zu erwarten ist, Tausende zivile Verwaltungskräfte verbleiben – und bleiben für den Ablauf des Alltags unverzichtbar. So gab es bereits 2011 ein erstes Technokraten-Kabinett. Es war das Ergebnis der immer wieder gescheiterten Versuche, Hamas und die nationalistische Fatah-Bewegung zu versöhnen. Letztlich scheiterte der Versuch kläglich. Er zeigte aber deutlich, dass die Nichtteilnahme der Hamas keineswegs deren indirekten politischen Einfluss aus dem Hintergrund stoppen kann. In Gaza, am «Tag nach dem Krieg», käme dieser Einfluss dann aus dem Untergrund der verbliebenen Tunnel.
Hamas wird weiter Einfluss haben, weil Netanyahu noch einen weiteren «Erfolg» für sich verbuchen will. Der Begriff Zweistaatenlösung kommt im gesamten Text nicht vor. Die Rolle der Palästinensischen Autonomieregierung wird auf ein Mindestmass beschränkt. Die jetzige Version der 20 Punkte sieht für sie nicht einmal eine Rolle als Marionette vor. Sie wäre allenfalls eine dekorative Schaufensterpuppe neben den internationalen Akteuren, die für die Interimskontrolle in Gaza vorgesehen sind.
Das ist ein Punkt, der für die am Wiederaufbau beteiligten arabischen Staaten kaum akzeptabel sein wird. Tatsächlich ist die PA unter Abbas derzeit unfähig, ihre eigenen Belange zu regeln. Doch die Nachfolge des fast 90-Jährigen steht an. Damit wäre eine Gelegenheit gegeben, längst überfällige Reformen durchzusetzen. Katar und Ägypten halten bereits «ihre» jeweiligen Nachfolgekandidaten bereit. Saudi-Arabien betonte diese Woche noch, dass ohne eine palästinensische Basis der neuen Verwaltung des Gazastreifens kein Interesse bestehe, sich am Wiederaufbau zu beteiligen.
2000 verurteilte Terroristen
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die vorgesehene Entlassung von über 2000 verurteilten Terroristen aus israelischen Gefängnissen. Darunter 250 Lebenslängliche. Namenslisten liegen noch nicht vor. Doch geht es um eine horrende Zahl «zukünftiger Sinwars». Auch Sinwar, Planer und Treiber des Massakers am 7. Oktober 2023, war so ein entlassener Lebenslänglicher. Für Netanyahu wiederum wäre es wohl ein grösseres Problem, den Fünf-mal-Lebenslänglichen Marwan Barguti auf die Liste zu setzen. Bis zu seiner Verurteilung während der zweiten Intifada sass der fliessend hebräisch sprechende Abgeordnete in der Fatah-Führung und galt als charismatischer Pragmatiker. Als Hoffnungsträger der jungen Generation und Dorn im Auge der Scharfmacher. In zuverlässigen palästinensischen Beliebtheitsumfragen steht er immer obenan. Ein möglicher Nachfolger für Abbas.
In der Zeitung «Haaretz» wurde die Lage im Kosovo mit den Zuständen im Gazastreifen verglichen. Diente das Abkommen, das den Konflikt im Kosovo regelte, doch als Vorlage für das Gaza-Programm. Auch wenn alles versucht werden sollte, eine Wiederholung der im Kosovo gemachten Fehler zu vermeiden, wird die im Gazastreifen zu erwartende Entwicklung ähnlich verlaufen. Ein Blick auf die jetzt bereits herrschenden chaotischen Zustände bei der Nachschubversorgung kann einiges verdeutlichen.
Soziale Systeme kennen kein Vakuum. Wo immer die Hamas an eigenen Raubzügen gehindert werden konnte, sprangen kriminelle Banden und mächtige Clans in die Lücke. Korruption und Gewalt sind im Gazastreifen kein Monopol der Hamas. Wie weit eine internationale Kontrolltruppe fähig oder überhaupt willig ist, sich gegen solche bewaffnete Kräfte durchzusetzen, ist mehr als fraglich. Es gibt auch noch keinen Staat, der eine Teilnahme seiner Soldaten fest zugesagt hätte. Soll heissen: Eine Entwaffnung der Hamas ist noch lange keine Demilitarisierung des Gazastreifens.
Ja, Komma und Aber
Alle warten jetzt auf die Antwort der Hamas. Israels militärischer Druck hat die paramilitärische Terrorarmee vom 7. Oktober 2023 bis zur Unkenntlichkeit zerrissen. Aber nicht zerstört. Hamas ist wieder zum alten Terrorgemenge aus Untergrundzellen geworden, die weiter um sich schiessen und eine Blutspur hinterlassen. Nachzulesen in den fast täglich neuen Todesanzeigen Gefallener. Als Antwort der Hamas ist wie üblich «Ja, Komma und Aber» zu erwarten. Wer immer die Hamas gerade führt, also die Bombardierungen in Doha und Gaza wie auch immer überlebt hat, steht unter dem Druck der arabischen Vermittlerstaaten. Katar als bisheriger Geldgeber. Ägypten als südlicher Nachbar, der Nachschubwege öffnen oder verriegeln kann. Druck, von dem sich Trump viel verspricht.
Unter Druck steht auch die israelische Regierung. Wer weiss besser als Binyamin Netanyahu, zu welchen abrupten Reaktionen Donald Trump fähig ist, sprach der doch sogar schon von «seinem» Friedensnobelpreis. Trump ist mit seinen 20 Punkten auch nicht mehr die Erlösergestalt, von der sich die Siedler zu seinem Amtsantritt am Jahresanfang noch die ersehnte Annexion besetzter Gebiete versprachen. Finanzminister Bezalel Smotrich erkannte den Ernst der Lage gleich nach Bekanntwerden der 20 Punkte: «America first. Siedlungen second». Smotrich kündigte interne Beratungen der Siedler-Lobby an – mit Rücktrittsdrohungen warf er diesmal nicht um sich. Doch verlor er keineswegs die Hoffnung, kennt Israels Rechte doch neben dem wankelmütigen Trump noch einen zuverlässigeren Erlöser: «Uns bleibt die Hoffnung, dass die Hamas ablehnt.»