belgien 20. Jun 2025

Zielscheiben und Messer-Fantasien

Solidaritätskundgebung für Palästinenser mit Eskalationspotenzial.

Belgien ist nicht mehr sicher für Juden – diese Aussage des israelischen Diaspora-Ministers schlug in den letzten Tagen hohe Wellen und wirft die Frage auf, wie schlimm die Lage im Gastgeberland der EU wirklich ist.

«Belgien hat sich ergeben!» twitterte Amichai Chikli am Wochenende. Als Begründung führte der israelische Diaspora-Minister an, Brüssel sei als Herz der EU von «islamistischen Mobs» eingenommen, die Hamas und Hisbollah anfeuerten. Öffentliche Reenactments des Horrors vom 7. Oktober hätten ebenso wenig Konsequenzen wie Morddrohungen gegen prominente jüdische Personen, und die Hisbollah agiere vollkommen straffrei im Land. «Ich rate der jüdischen Gemeinschaft in Belgien dringend dazu, wegzugehen», folgert Chikli. «Dieses Land hat seine Souveränität verloren und kann seine Juden nicht länger beschützen.»

Ein «dramatisches Statement», so die im Diskurs des Landes sehr aktive jüdische Zeitschrift «Joods Actueel» über den Tweet, der in belgischen Medien für einigen Wirbel sorgte. Als «absoluten Unsinn» wies derweil Annelies Verlinden, die christdemokratische Justizministerin, in einem TV-Gespräch den Vorwurf mangelnden Schutzes für Jüdinnen und Juden zurück. Im Gegenteil, man habe sich dafür sehr stark eingesetzt. Tatsächlich ist der im Februar angetretene Premierminister Bart De Wever, zuvor jahrelang Bürgermeister Antwerpens mit seiner grossen und sehr sichtbaren orthodoxen Bevölkerung, dafür bekannt, sich für deren Sicherheit eingesetzt zu haben. Seine Partei, die flämisch-nationalistische Nieuw-Vlaamse Alliantie, geniesst dort einen entsprechend hohen Status.

Besorgniserregende Bilder
Chikli wiederum ist als Hardliner bekannt, dem die «Jerusalem Post», «eine besondere Affinität zur weltweiten extremen Rechten» bescheinigte. In Europa sorgte er zuletzt im März für Schlagzeilen, als er anlässlich der Antisemitismus-Konferenz seines Ministeriums mehrere Schwergewichte des internationalen Rechtspopulismus nach Jerusalem einlud, darunter den argentinischen Präsidenten Javier Milei und den Rassemblement-National-Chef Jordan Bardella. Chiklis Allianzen und Inhalte sind also mehr als zweifelhaft.

Zugleich ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Zustände, die er anprangert, ein besorgniserregendes Bild Belgiens zeichnen. Da war das «Resistance Festival» Anfang Juni im Brüsseler Stadtteil Saint-Gilles, ausgerichtet von Samidoun. Dort traten als palästinensische Kämpfer verkleidete Männer auf, in Tarnkleidung, mit Maschinengewehr-Attrappen und mit Kufiya vermummt, die Kampfszenen nachstellten, während andere Darsteller auf dem Boden liegend blutige Leichen simulierten.

Die israelische Botschafterin Idit Rosenzweig-Abu reagierte geschockt über dieses «Reenactment des 7.-Oktober-Massakers», das bis in israelische Medien Wellen schlug. Faktenchecker des TV-Senders VRT veröffentlichten später ihre Recherchen, wonach es sich bei den dargestellten Leichen und Ermordeten um Palästinenser handeln soll. Die Hamas und andere jihadistische Gruppen werden demnach nicht namentlich erwähnt in der Aufführung, die Unterstützung für den bewaffneten Kampf wird jedoch bestätigt.

Eine Woche später tauchten an mehreren Orten in Brüssel, einschliesslich des EU-Quartiers, Plakate auf, die Porträts prominenter jüdischer Personen zeigen und diese als «Lobbyist des Genozids» verleumdeten. Der Rabbiner Menachem Margolin, Gründer und Vorsitzender der European Jewish Association (EJA), sein Stellvertreter Alex Benjamin und Ruth Isaac, sind zuständig für die Beziehungen zur Europäischen Union. In einem Statement der EJA heisst es: «Dies ist kein politischer Aktivismus. Dies ist Anstiftung, schlicht und einfach.»

Menachem Margolin sprach von einer «sorgfältig orchestrierten Kampagne, die darauf abzielt, die jüdische Gemeinschaft Europas zu delegitimieren, ihr einen schweren moralischen Makel anzuhängen und sie zu einem leichten Ziel für politische und physische Angriffe zu machen. Es ist ein erschreckendes Echo der dunkelsten Kapitel der Geschichte, aus denen Europa vorgibt, gelernt zu haben.» Von der belgischen Regierung, europäischen Institutionen und zuständigen Behörden forderte die EJA in einem «dringenden Appell» sämtliche Plakate zu entfernen, strafrechtliche Ermittlung und Verfolgung der Verantwortlichen und deutlich stärkere Schutzmassnahmen für die EJA-Spitze wie Gemeinden in ganz Europa.

Das Antwerpener Forum der Joodse Organisaties bezeichnet die Situation in einem Pressebericht als «maximale Bedrohung für die jüdische Gemeinschaft in Belgien». Gefährliche Vergleiche und Verallgemeinerungen, welche die jüdische Gemeinschaft unter Druck setzten, enthielten «das Risiko, dass solche Rhetorik zu Gewalttaten führen kann». Laut dem Koordinationskomitee jüdischer Organisationen von Belgien hätten die auf den Plakaten abgebildeten Personen nun «eine Zielscheibe auf dem Rücken».

Anspannungen in Antwerpen
Auch im vermeintlich letzten Schtetl Westeuropas, dem Antwerpener Diamantenviertel, ist die Lage trotz aller Bemühungen der Stadtregierung zum Schutz der jüdischen Bevölkerung kontinuierlich angespannt. An der Kommunalwahl im letzten Oktober war Sicherheit und die Sorge darum bei jüdischen Wählerinnen und Wählern das alles dominierende Thema – andere spielten so gut wie keine Rolle, wie tachles damals in einer Reportage aus der Hafenmetropole berichtete.

Nur wenige Wochen später zirkulierte ein Online-Aufruf zur «Judenjagd» in Antwerpen, nachdem in Amsterdam Fans des israelischen Fussballmeisters Maccabi Tel Aviv nach einem Europacup-Match unter diesem Motto durch die Stadt gejagt und attackiert worden waren. Immer wieder vernimmt man Berichte, dass Taxifahrer jüdische Passagiere verweigern. Im Mai wurden fünf jüdische Jugendliche, die eine Bowlingbahn gebucht hatten, dort mit einem Bildschirm begrüsst, auf dem stand, dass die Bahn für «fünf Juden» reserviert worden war.

Beim Zentrum für Chancengleichheit Unia häufen sich durch den Nahost-Krieg die Meldungen über Antisemitismus. Direktorin Els Keytsman berichtete der Zeitung «De Tijd» im November, diese beträfen «vor allem Online-Äusserungen, aber auch Beschädigung jüdischer Gebäude, Grabschändung und in einigen Fällen körperliche Gewalt». Viviane Teitelbaum von der liberalen Partei Mouvement Réformateur zeigte sich im selben Blatt «besorgt, dass aus der belgischen Politik so wenig Reaktionen kommen. Die Gesellschaft lässt Hass gegen Juden noch immer zu viel geschehen.»

Zwischen Panik und Unbehagen
Das nach den Terror-Attacken des 7. Oktober gegründete Institut Jonathas veröffentlichte im Mai dieses Jahres eine Untersuchung mit dem Titel «Antisémitisme en Belgique, a perfect storm». Dieser bilanziert, judenfeindliche Ansichten seien «sowohl in der extremen Rechten als auch in der extremen Linken, unter Muslimen und in Brüssel» überrepräsentiert. Der Kampf gegen Antisemitismus im Land benötige einen Reset, um mehr Wirksamkeit zu erzielen. Gemäss einer Erhebung der EU-Agentur für Grundrechte noch vor dem 7. Oktober hatten acht von zehn belgischen Juden das Gefühl, von anderen für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich gemacht zu werden. Sieben von zehn verbargen bisweilen ihre Identität aus Sicherheitsbedenken, vier von zehn vermieden aus dem gleichen Grund bestimmte Orte.

Die Plakat-Aktion von Brüssel ist nicht die erste, die jüdische Personen wegen der Zustände in Gaza zur Zielscheibe macht. Erst letzten Sommer fantasierte der bekannte Schriftsteller Herman Brusselmans in einer Zeitschriftenkolumne über ein Bild eines palästinensischen Jungen, der nach seiner unter Trümmern liegenden Mutter schreit, dass es sich dabei um seine Freundin und den gemeinsamen Sohn handeln könnte. Diese Vorstellung machte Brusselmans «so wütend, dass er jedem Juden, dem er begegnet, ein spitzes Messer durch die Kehle rammen will». Sowohl die Euorpean Jewish Association als auch Unia erstatteten Anzeige. Im März wurde Brusselmans vom Vorwurf des Aufrufs zu Hass und Gewalt gegen Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft freigesprochen.

Anlässlich der jüngsten Entwicklungen fasst die Zeitschrift «Joods Actueel» die Lage wie folgt zusammen: «Berechtigte Unruhe, unbegründete Panik», so der Titel eines analysierenden Artikels. Der kritisiert einerseits den wachsenden Antisemitismus, der «nicht aus dem Nichts kommt, sondern von bestimmten religiösen und politischen Strömungen genährt wird». Dennoch sei die jüdische Gemeinschaft «weder wehrlos noch verlassen», heisst es in Bezug auf die enge Zusammenarbeit zwischen jüdischen Einrichtungen und staatlichen Sicherheitsbehörden sowie den freiwilligen internen Sicherheitsdienst Shmira in Antwerpen.

Weiterhin lobt der Autor Cedric Vloemans, Premier Bart De Wever und Georges-Louis Bouchez, den Chef des Mouvement réformateur, das Pendant zur Nieuw-Vlaamse Alliantie in der südlichen Wallonie, die sich nach dem 7. Oktober an die Seite Israels gestellt und die jüdische Gemeinschaft in Belgien verteidigt hätten. Chiklis Aussagen müssten dagegen vor allem in dessen eigenem Kontext gesehen werden. Chiklis sei «bekannt als ideologischer Hardliner, der gerne die Grenzen der Diplomatie aufsucht».

Der Eindruck, europäische Juden könnten sich nur noch in Israel zu Hause fühlen, passe in eine zionistische Perspektive, entspreche aber nicht der komplexen Wirklichkeit in der Diaspora. Ausserdem verbessere es die Lage der europäischen Juden nicht, sondern setze sie zusätzlichen Risiken aus: Das Vertrauen in die belgischen Institutionen werde untergraben, das Gefühl von Isolation nehme zu, und die Gefahr drohe, dass die Aussage, Juden seien in Belgien nicht sicher, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werde.

Tobias Müller