Das Schaffen und die Verhaftung von Boualem Sansal zeigt einmal mehr die Fratze des Regimes – und warum die jüdische Herkunft des franko-algerischen Schriftstellers eine Rolle spielt.
Als Betrüger und Handlanger eines «macronito-zionistischen Frankreichs» bezichtigten die Propagandisten des algerischen Regimes den franko-algerischen Schriftsteller Boualem Sansal nach dessen Verhaftung am 16. November 2024 im Flughafen von Algier.
Zehn Tage lang wusste man nicht, wo der 80 Jahre alte, an Krebs erkrankte Autor gefangen gehalten wurde. Die Regierung diffamierte ihn als revisionistischen, «von der extremen französischen Rechten verehrten Pseudo-Intellektuellen» und als gefährlichen Hochverräter, der durch Interviewaussagen über historische Grenzen zwischen Algerien und Marokko die «Einheit der Nation» und «die territoriale Integrität Algeriens» unterminiert habe. Dass Sansal erst wenige Monate vor seiner Festnahme die französische Staatsangehörigkeit erhalten und Präsident Emmanuel Macron im Oktober in Rabat erklärte hatte, er unterstütze den marokkanischen Anspruch auf die seit dem Ende der Kolonialzeit umkämpften Gebiete in der Westsahara, machte die beiden in den Augen der algerischen Machthaber zu zionistischen Komplotteuren.
Antizionismus und Antisemitismus
Nichts passt zusammen in der willkürlich konstruierten Anklage gegen den Schriftsteller. Augenfällig ist die obsessive Fixierung auf Israel und das Judentum. Den Regierenden bescheinigt Boualem Sansal seit Langem, dass Antizionismus und Antisemitismus den «Folter-Sozialismus» der Nationalen Befreiungsfront als «Staatsreligion» abgelöst hätten. Gäbe es keine Grenzen, hätte Präsident Tebboune wohl längst Truppen nach Gaza entsandt. Die Zerstörung Israels ist ein Wunschziel.
In einer Gerichtsverhandlung, die nur 20 Minuten dauerte, wurde Boualem Sansal am 27. März dieses Jahres zu fünf Jahren Haft und einer Geldstrafe verurteilt. Im Dezember hatte man ihm nahegelegt, sich nicht länger von seinem französischen Anwalt François Zimeray vertreten zu lassen. Die algerischen Behörden verweigern Zimeray bis heute das Einreisevisum. Zimeray ist Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Er war Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Während seiner Zeit als französischer Botschafter in Dänemark entging er 2015 in Kopenhagen einem islamistischen Anschlag. François Zimeray ist jüdisch. War das ein Grund für Sansal, ihn als Anwalt zu wählen? Wir wissen es nicht. François Zimeray ist vor allem ein erfolgreicher, beharrlicher Menschenrechtsanwalt, der seinem Mandanten im Verbund mit zwei algerischen Kollegen beizustehen versucht.
Schreiben und Massaker
Als «eine Form von Exorzismus» beschrieb der studierte Maschinenbauingenieur Boualem Sansal die Arbeit an seinem ersten, 1999 in Frankreich veröffentlichten Roman, «Der Schwur der Barbaren». In den Jahren 1992 bis 2002 töteten Parteigänger der Islamischen Heilsfront (FIS) und in Kampfgruppen organisierte Salafisten Muslime und Musliminnen, die ihren Glauben vermeintlich nicht hingebungsvoll genug praktizierten. Auf dem Land wie in der Stadt. Polizei und Militär verhinderten die barbarischen Akte nicht. Journalisten, Schriftsteller, Sänger und Schauspieler waren permanent bedroht. Die Liste der namhaften Hingerichteten wurde von Jahr zu Jahr länger. Scharfzüngig kritisiert Sansal in seinem Prosadebüt die Einheitspartei und ihren Führer- und Märtyrerkult, die fundamentalistische Islamisierung und Militarisierung des Landes. Nachdem er während eines Frankreichaufenthaltes darüber klagte, dass das damalige Staatsoberhaupt Bouteflika gemeinsam «mit einer Clique von Schurken» Algerien ausplündere, verlor Sansal 2003 seine Stelle als Generaldirektor im Industrieministerium.
Islamismus und Nazismus
In seiner Literatur schildert er, wie das gesellschaftliche Band durch die systematische Verleugnung des griechischen, des phönizischen, des römischen, des jüdischen, des christlichen, des byzantinischen, des berberischen, des spanischen und des französischen Erbes allmählich zerstört wurde. Zugunsten nur eines Narrativs. Demnach beginnt die Geschichte Algeriens mit dem «ruhmreichen Befreiungskrieg», und das Fundament der Nation ist arabisch-muslimisch.
Unausgesprochen setzt man in Algier aber auch auf andere Kontinuitäten. Dem 2008 veröffentlichten Roman «Le village de l’Allemand ou Le journal des frères Schiller» liegt eine Entdeckung zugrunde, die Sansal in der Gegend von Sétif machte. Er legte in einem Dorf einen Halt ein, dessen Vorsteher ein ehemaliger SS-Offizier war. Verblüfft stellte er fest, dass sich kaum jemand für die verbrecherische Vergangenheit des Mannes interessierte. Dass dieser im Befreiungskrieg an der Seite der Algerier gekämpft hatte, genügte, und wer von der Schoah wusste, bewunderte den Dorfvorsteher eher. Ohnehin, so Sansal, hielten viele Algerier die Konzentrationslager für eine blosse Erfindung der Juden. Bei den Recherchen für seinen Roman fand er heraus, dass muslimisch-arabische Bataillone an der Seite der Nationalsozialisten gekämpft hatten und sich auch nach der Kapitulation Deutschlands keinesfalls von der menschenverachtenden, rassistischen Ideologie lossagten. Das mit der Ausschleusung ehemaliger SS-Angehöriger aus Europa beauftragte Fluchthilfe-Netzwerk Odessa wurde, so Sansal, nicht nur von Südamerikanern, sondern auch von Ägyptern und Syrern kontaktiert, die Führungskader zum Aufbau ihrer Armeen brauchten. Radikaler Islamismus und Nationalsozialismus bilden für Sansal auch in der Gegenwart ein Brüderpaar. Deshalb lenkt er in «Das Dorf des Deutschen» den Blick in französische Vorstädte, wo Imame zu Beginn des 21. Jahrhunderts weitgehend unbehelligt islamistische Propaganda verbreiten und Glaubenskrieger rekrutieren konnten. Sansal ist der erste, in einer muslimischen Gesellschaft lebende Schriftsteller, der die Lebenswelt junger Maghrebiner mit der Geschichte der systematischen Vernichtung der europäischen Juden konfrontiert, der sie mit Zweifeln an den Erzählungen der Väter und dem Empfinden von Schuld verbindet, die diese sich einzugestehen ausserstande sind.
Der «jüdische Lehrling»
Von seiner Affinität zum jüdischen Denken erzählt Sansal in dem autobiografisch gefärbten Roman «Rue Darwin» (2011). Einige Jahre lang wohnte er mit seiner Mutter in Algier, direkt neben der Synagoge des Viertels Belcourt. Er befreundete sich mit dem alten Rabbiner, dessen Gemeinde während des Unabhängigkeitskrieges nach Frankreich abwanderte. Boualem Sansal begrüsste – anders als furchtsame oder opportunistische, in muslimischen Ländern sozialisierte Autoren – die Übersetzung seiner Literatur ins Hebräische und reiste mehrmals, unbeeindruckt von angedrohten Massregelungen, zu internationalen Schriftstellertreffen und zur Buchmesse nach Jerusalem. Mit David Grossman gründete er 2012 die Initiative «Schriftsteller für den Frieden». Grossman dankte dem Besucher in einem bewegenden Text dafür, dass dieser offen und aktiv die Komplexität der israelischen Lebenswirklichkeit zu erfassen suchte und so an das erinnerte, was im nahöstlichen Alltag schnell vergessen wird: Es gibt eine gemeinsame Menschlichkeit.
Weil Sansal es unterliess, sich öffentlichkeitswirksam mit dem palästinensischen Volk solidarisch zu erklären und meinte, es solle endlich damit aufgehört werden, Palästinensern wie Israelis Heilspläne aufzuladen, war der Zeitpunkt gekommen, ihn in Algier zum «Feind Allahs und der arabischen Nation» abzustempeln. Der bekennende Atheist Sansal hat ideologisch motivierte Zuschreibungen stets ostentativ belächelt. Dennoch muss die vom Regime forcierte Isolierung seiner Person, wie auch die Instrumentalisierung durch islamophobe, ebenso wie den Islamismus verharmlosende europäische Politiker und Publizisten über die Jahre zu einer schweren Belastung für ihn geworden sein.
Der Mahner
«2084. Das Ende Der Welt» gehörte 2015 – dem Jahr der tödlichen Anschläge auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo», den Pariser Musikclub Bataclan, Bars und den Hypercacher-Markt – in Frankreich zu den meist diskutierten literarischen Werken, zusammen mit Michel Houellebecqs Farce «Unterwerfung». In seinem dystopischen, mit dem Grand Prix du Roman der Académie Française ausgezeichneten Werk imaginiert Sansal das Leben in einer planetaren Glaubensdiktatur. Im Gespräch, das ich mit Boualem Sansal führen konnte, betonte er, dass die westliche Welt das Streben fundamentalistischer Kräfte nach einer weltumspannenden Herrschaft des Islam sträflich verharmlose. Islamisten gehe es nicht um eine «freundliche Übernahme», sie strebten nach der Zerstörung demokratischer Gesellschaftsordnungen «durch den Jihad, nicht durch Diskussionen». An einen sanftmütigen Islam zu glauben, hält Sansal für einen «naiven und gefährlichen Intellektuellentraum». Politisch Linke gingen auf Abstand zu ihm. So stimmte die französische Partei La France insoumise im Januar 2025 gegen die Resolution des Europäischen Parlaments zur Freilassung von Boualem Sansal und anderer Aktivisten, Journalisten und Menschenrechtsverteidiger in Algerien.
Dass ein unfreier Mensch einen anderen niemals achten werde – weder den Unterdrückten, weil dessen Unglück ihn an seine eigene Erniedrigung erinnere, noch den freien Menschen, weil dessen Glück ihn beleidige –, gehört zu Boualem Sansals Grundüberzeugungen. Das Verlangen nach Freiheit, daran glaubt er, schütze vor Hass und Verbitterung. Als Boualem Sansal 2011 in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des deutschen Buchhandels überreicht wurde, blickte er auf den leeren Stuhl des algerischen Botschafters in Deutschland. Er erzählte, dass seine Bücher in Algerien zwar verboten seien, er sich aber frei bewegen könne. «Falls über meinem Kopf ein Damokles-Schwert hängt», so Sansal, «sehe ich es zumindest nicht.» Im November 2024 haben die Tyrannen das Schwert fallen gelassen.