unesco 26. Sep 2025

Im Namen der Verständigung

Die UNESCO mit dem Hauptsitz in Paris wird ab November von einem neuen Generalsekretär geleitet.

80 Jahre nach ihrer Gründung wählt die UNESCO einen neuen Direktor – die Kandidatur des ägyptischen Wissenschaftlers und Ex-Ministers Khaled El-Enany wirft ein Licht auf den kontroversen Kontext internationaler Zusammenarbeit.

«UNESCO for the people» - so lautet das Motto des ägyptischen Kandidaten Khaled El-Enany, der auf der 43. General-Versammlung der UNESCO, die Ende Oktober im usbekischen Samarkand beginnt, an die Spitze der UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur gewählt werden möchte. Dort könnte der 54-jährige die Nachfolge der Französin Audrey Azoulay antreten, die ab 2017 zwei Amtszeiten lang als Generaldirektorin fungierte. Unterstützt wird der Professor für Ägyptologie und ehemalige Tourismusminister des Landes unter anderem von der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga und mehreren europäischen Ländern.

Seine Kandidatur, die er bereits im April 2023 ankündigte und seither auf einer Promotionstour um den Globus bewirbt, führt El-Enany direkt auf seine Herkunft zurück: «Ägypten, ein Land, in dem frühere Zivilisationen ihren Abdruck hinterlassen haben, in dem Kulturen sich begegnet sind und Jahrhunderte der Geschichte uns an die Stärke von Diversität und die Notwendigkeit von Demut erinnern», so präsentiert er sich. Weiter heisst es, in diesem Kontext habe er gelernt, dass Frieden keine abstrakte Idee und kein fernes Ideal sei.

Kern der Mission
Als Generaldirektor, bekräftigt El-Enany, wolle er «allen Stimmen aktiv zuhören», weshalb er jetzt schon alle Interessierten dazu einlädt, ihre Ideen mit ihm zu teilen, sodass die UNESCO «die Leben aller Menschen» positiv beeinflussen könne. Der Austausch mit El-Enany ist für Besucher seiner Website nur einen Klick entfernt: Vorschläge können ihm gleich elektronisch übermittelt werden, auch wenn er sich in Samarkand noch gegen den kongolesischen Vertreter Firmin Edouard Matoko durchsetzen muss. Die mexikanische Bewerberin Gabriela Ilian Ramos Patiño hat ihre Kandidatur vor einigen Wochen zurückgezogen.

In seinem «Vision Statement» bekennt El-Enany sich dazu, das Wohl der Menschen ohne jegliche Diskriminierung zum Kern seiner Mission zu machen, auf dass «Nationen in Frieden und Würde prosperieren», ein Ansatz, den er auf die Erfahrungen seiner jüngsten Reisen durch mehr als 50 Ländern baut. Dadurch bringt er sich als «kulturelle Brücke» ins Spiel, um die UNESCO zu einem «Eckstein des Multilateralismus» zu machen, Synergien zu erzeugen und «innerhalb der erweiterten UN-Familie» die Kräfte zu bündeln.

Bei einer Kandidaten-Befragung im August zog El-Enany ein bemerkenswertes Fazit: Die Welt brauche die UNESCO «heute mehr denn je», da sie herausfordernder sei als vor 80 Jahren, als die Organisation gegründet wurde, um neben politischen Übereinkünften und wirtschaftlichen Abkommen zu einem dauerhaften Frieden beizutragen. «Durch Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Völkern in Bildung, Wissenschaft und Kultur zur Wahrung des Friedens und der Sicherheit beizutragen», so beschloss es die Gründungsversammlung am 16. November in London, festgehalten in Artikel 1.1 des gemeinsamen Vertrags.

Wiedertreffen
Genau acht Jahrzehnte später wird das diesjährige Treffen in Samarkand zu Ende gehen, und was die Dimension der Herausforderungen betrifft, ist El-Enany durchaus zuzustimmen. Die Kriege und Konflikte sowie die geopolitische Dynamik dieser Zeit zeugen von der immer schnelleren Erosion jener Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel einer friedlicheren Zukunft entstand, und von der die UNESCO ein wichtiger Baustein ist.

Zudem sind sie ein Gradmesser dafür, wie sehr das Prinzip des Multilateralismus unter Druck geraten ist. Die Devise lautet Rückzug: von der EU (Grossbritannien), dem Pariser Klima-Abkommen und der Weltgesundheitsorganisation WHO (USA), dem Internationalen Strafgerichtshof (Ungarn sowie ganz aktuell Niger, Mali und Burkina Faso). Auch die Europäische Menschenrechtskonvention scheint nicht mehr in Stein gemeisselt, sondern wird von Mitgliedsstaaten der EU zunehmend in Frage gestellt.

Ohne die USA
Die USA beschlossen zudem im Juli, wie schon in Trumps erster Amtszeit, sich 2026 auch aus der UNESCO zu verabschieden, unter dem Vorwurf, diese fördere «spaltende soziale und kulturelle Angelegenheiten» und eine vermeintlich «woke» Agenda. Vor dem Hintergrund dieser Tendenzen wirkt El-Enany, der in seiner Kampagne demonstrativ auf die ursprünglichen Ideale und Ziele der UNESCO zurückgreift, wie ein aus der Zeit gefallener Traditionalist. Oder ist seine Agenda in diesen Zeiten gar zur Utopie geworden?

Ganz so eindeutig ist diese plakative Gegenüberstellung nicht. Bei näherem Hinsehen weist das Bild des unermüdlichen Brückenbauers und Völkerverständigers El-Enany einige Risse auf. Erste Zweifel an seiner Kandidatur ergeben sich schon daraus, dass die UNESCO, wie er selbst betont, eine «von den Mitgliedsstaaten gesteuerte» Organisation ist. Für diese gilt, genau wie für die Vereinten Nationen oder internationale Gerichtbarkeit, dass es sich nicht um eine Art neutrale Weltregierung auf einer Meta-Ebene handelt, sondern um die Summe von nationalen Interessen geht, die äusserst komplex, divergent, ja oft kontrovers sind. Hinzu kommt, dass die Mitgliedsstaaten den weltweiten Trend widerspiegeln, dass sich Demokratie weltweit auf dem Rückzug befindet, die autoritäre Versuchung dagegen offenbar immer stärker wird.

Getrübtes Bild
Im Fall Ägyptens zeichnet die NGO Coptic Solidarity ein trübes Bild, das auch direkt auf El-Enany zurückfällt. Die NGO, die sich für Minderheiten, Demokratie sowie Menschen- und Bürgerrechte einsetzt, publizierte im Juli eine «Kritische für Evaluierung der Kandidatur Ägyptens». Gemessen an den Kriterien von unter anderem «moralischer Integrität, nachweislichem Engagement für kulturelle Vielfalt und Meinungsfreiheit» falle die ägyptische Bilanz mehrfach und derartig zurück, dass «die Glaubwürdigkeit der UNESCO selbst» auf dem Spiel stehe.

Der Report kritisiert vor allem den unzureichenden Schutz des Katharinenklosters auf der Sinai-Halbinsel. Seit 2002 ist es eine bedeutende Stätte auf der Weltkulturerbe-Liste der UNESCO, die ihm einen «herausragenden universellen Wert» bescheinigt. Dessen touristisches Potential wolle die ägyptische Regierung mit einem geplanten Luxus-Resort übermässig ausbeuten. Im Mai bestätigte ein ägyptisches Gericht das Projekt und urteilte, das von griechisch-orthodoxen Mönchen betriebene Kloster befinde sich auf staatlichem Territorium.

Die Kulturerbe-Organisation World Heritage Watch hat der UNESCO aus Besorgnis einen offenen Brief geschrieben, in dem sie darauf drängt, das Kloster auf die Liste bedrohten Kulturerbes aufzunehmen. Das touristische Grossprojekt sorgt inzwischen auch in Griechenland für Verstimmung. Coptic Solidarity bilanziert, das Vorgehen der Regierung widerspreche «sowohl dem Status-quo-Abkommen als auch Ägyptens eigenen Darstellungen gegenüber der UNESCO. Das Ministerium des Kandidaten ist direkt in die Verfahren involviert.»

Weitere Vorwürfe
Die Vorwürfe sind damit freilich nicht erschöpft. Schuldig mache sich Ägypten auch an der Zerstörung historischer Friedhöfe und einer kontroversen Politik beim Thema Denkmalschutz, just während der Amtszeit El-Enanys als zuständigem Minister, so heisst es. Jenseits dieser Thematik, aber ebenfalls in direktem Bezug zur UNESCO, stehen die Diskriminierung von Minderheiten und «kulturelle Unterdrückung» der koptischen Christen Ägyptens. Deren Identität werde untergraben, ihr Zugang zu öffentlichen Ämtern beschränkt, von gleichwertigem Zugang zu Bildung und Bewahrung von Kulturerbe seien sie ausgeschlossen; ein ausgesprochener Gegensatz zu den Ansprüchen der UNESCO bezüglich kultureller Vielfalt und der Rechte von Minderheiten.

Ein weiterer Kritikpunkte ist das Bildungssystem, das mit seinem nur Muslimen zugänglichen Zweig der Kairoer Al-Azhar-Universität und einem «wachsendem Netzwerk von Koranschulen» konfessionelle Spaltungen vertiefe, so der Bericht. Besonders schlecht ist zudem die Lage im Bereich der Pressefreiheit. Auf der Reporters-Without-Borders-Liste von 2024 belegt Ägypten den 170. von 180 Plätzen. Der zugehörige Report nennt das Land «einen der grössten Inhaftierer von Journalisten», in dessen Medienlandschaft Pluralismus «beinahe nicht existent» sei und das unabhängige Online-Medium «Mada Masr» seit 2017 blockiert werde.

Spezielle Kritik an El-Enani und seiner Kandidatur äusserte im September der TV-Präsentator Mohammed Naser, der ihm Korruption und die Verschwendung öffentlicher Gelder vorwarf, ebenso wie sein gutes Verhältnis zu Zahi Hawass, seinem Vorgänger als Minister. Dieser ist nicht nur als führender ägyptischer Archäologe bekannt, sondern auch als erklärter Gegner einer Normalisierung der Beziehung zu Israel. In einem TV-Interview 2009 behauptete er, Juden seien zwar zahlenmässig klein, kontrollierten durch ihre Einigkeit und Geschlossenheit jedoch die Welt, die USA und die Medien. Später revidierte er seine Aussage dahingehend, dass er nur die fehlende Einigkeit in der arabischen Welt habe anprangern wollen. Ein Jahr später freilich sagte Hawass die Einweihung einer restaurierten Synagoge in Kairo ab und nannte dies einen «Schlag ins Gesicht» des «zionistischen Feinds» Israel.

Auffällig an der Person El-Enany sind auch seine regelmässigen engen Kontakte zu Vertretern der politischen und Business-Elite Qatars, wie etwa Botschafter und die Immobilien-Investitions-Gesellschaft Qatari Diar. In Ägypten steht El-Enany damit für die Verbesserung der störungsanfälligen Beziehung zur Golf-Monarchie. Deren Investitionen bringen dem Land Arbeitsplätze, Devisen und Entwicklungs-Projekte. Qatari Diar ist zugleich ein Gross-Sponsor der UNESCO- Stätte der Pyramiden von Gizeh und trat auch schon in Eritrea bei der Restauration von Weltkulturerbe in Erscheinung.

Insofern lässt sich die Kandidatur von Khalel El-Enany auch im Licht der globalen Soft Power- Kampagne Qatars betrachten. Für die anstehende UNESCO-Versammlung gilt, dass sie diesmal in besonderem Mass die turbulenten, von geopolitischen Umwälzungen geprägten internationalen Beziehungen widerspiegelt. Ziele wie Verbindung und Austausch, insoweit hat El-Enany Recht, wären demnach wichtiger denn je. Doch hinter entsprechender Rhetorik kann sich offenbar sehr viel mehr verbergen.

Tobias Müller