Der Soziologe Harald Welzer spricht im Interview über 80 Jahre Befreiung Europas im Kontext gesellschaftlichen, politischen und demokratischen Wandels.
tachles: Wir stehen vor dem 80. Jahrestag der Befreiung Europas. Hätten Sie je gedacht, dass sich die Wege USA und Europa trennen würden?
Harald Welzer: Ich habe das ausser gewissen Aspekten der gegenwärtigen Trennung nicht erwartet. Wir wissen seit der Obama-Administration um eine Abwendung der USA von Europa, aber das wurde hier politisch nicht zur Kenntnis genommen. Ich war im letzten Frühjahr in den USA und nach vielen Alltagsgesprächen völlig überzeugt, dass Donald Trump die Wahl gewinnen würde. Trotzdem hätte ich die Radikalität nicht antizipiert, in der dieses amerikanische Regime jetzt vorgeht. Obwohl es dafür ja einen Blue Print gab und totalitäre Regimes immer ein Bewegungsmoment brauchen, das sie durch Atemlosigkeit produzieren – jeden Tag zwanzig neue irre Sachen, Grossartigkeiten oder was immer. Damit kommen die Gegner ins Hintertreffen, können gar nicht mehr selber denken und gestalten, und die Verbündeten werden damit hineingerissen. Mir ist historisch nicht bekannt, dass es schon einmal eine solche reine Männerclique mit einer solchen Machtfülle gegeben hätte, die machen kann, was sie will. Und sie werden viel tun, weil sie es können.
Werden die USA die rechtsextremen und autokratischen Bewegungen in Europa eher stärken – oder hat Europa verstanden, dass transatlantische Trennung nun zu vollziehen ist?
Ich weiss es nicht, habe aber eher die Befürchtung, dass das überschwappt, sofern dieses Regime innenpolitisch erfolgreich sein wird. Dann könnte es eine grosse Verlockung geben, dem nicht zu widerstehen, sondern es zu kopieren. Aus meiner Sicht wären dann aber nicht mal die Rechtsextremen das grösste Problem, sondern die Rechtsmitteparteien. Wir haben ja keine Konservativen mehr, in deren Parteien das Bewahrende und Skrupulöse gepflegt würde – das ist weg. Da sehe ich die Gefahr, dass es innerhalb Europas kippt, auch wenn AfD und Konsorten ein verschärfender Faktor sein dürften. Wenn der Konservatismus verschwindet, gibt es kein Bollwerk gegen das Libertäre mehr.
Ist das Libertäre eher rechts oder links?
Wir würden mit den Kategorien gar nicht mehr zurechtkommen – das sage ich schon lange. Dieses klassische Rechts-Links-Schema funktioniert nicht mehr. Das wirft indessen die Frage auf, wo die Adressaten für Politikangebote denn sind, in welchen Gruppen wird libertäres Denken begrüsst? Da mögen auch aufgeklärte Kreise plötzlich finden, dass unser Problem gar nicht die Ungleichheit ist, sondern die Bürokratie, dass wir zu viel und nicht zu wenig Rechtsstaat haben und so weiter.
Hat Europa in den 80 Jahren zu lange an der überlieferten Geschichte zu den Alliierten etc. festgehalten? Trump bricht diese gerade auf.
Das Problem ist ja ohnehin, dass unsere Erinnerungskultur heruntergekommen ist auf relativ leeres Gedenken, das Sprechen von Formeln und von Ritualen. Das geht an Zielen politisch-historischer Bildung vorbei, die Menschen zur Urteilskraft befähigen soll, dazu, dass sie an gewissen Stellen nicht mehr mitmachen oder gar Widerstand organisieren. Das erreicht man nicht durch solch abstraktes, petrifiziertes Erinnern. Bei aller guten Absicht dokumentieren die omnipräsenten Gedenktafeln ja immer wieder die unfassbare, geradezu überhistorische Bedeutung des NS-Regimes. Insofern ist die Erinnerungskultur nie zeitgemäss modernisiert worden; sie ist auf diesem «Nie wieder» stehen geblieben und hat sich immer weiter von der Lebendigkeit des politischen und gesellschaftlichen Prozesses entfernt. Radikal gesagt zeigt sich die Wirkungslosigkeit des Ganzen daran, dass wir in ganz Europa den Aufstieg der extremen Rechten sehen und der Westen sich in diese Richtung entliberalisiert.
Was funktioniert nicht, wenn Mehrheiten, die sich für Aufklärung, Erinnerungsarbeit, Humanismus, Antirassismus etc. engagieren, nicht durchdringen?
Wenn ich das Ziel einer demokratischen, an Gerechtigkeit und Menschenrechten orientierten Gesellschaft habe, muss ich gesellschaftliche Praktiken und dazu passende Erzählungen etablieren, die Menschenfeindlichkeit zu einem No-Go machen. Wenn ich nur das «Nie wieder» und die Gedenktage etabliere, aber gleichzeitig eine politische Praxis voller Ausgrenzungserzählungen salonfähig mache, steht das in einem totalen Missverhältnis, das sich auch mitteilt. Wer von jenen, die an einer Gedenkveranstaltung total gerührt sind, hätte die Bereitschaft, gegen menschenfeindliche Migrationspolitik auf die Strasse zu gehen oder auch nur zur Kenntnis zu nehmen, was die dabei zugrunde liegende Haltung ist?
Sie sehen also die politisch sehr aufgeladene, ideologisierte Erinnerungskultur-Staatsräson kritisch?
Die deutsche Gedenkkultur hat eine Geschichte des Kampfes gegen eine zunächst sehr starke Verleugnung der Nazivergangenheit, dann gegen die Verleugnung der wirklich mehrheitlichen Partizipation in dem Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Vernichtungsprozess, später der sukzessiven Durchsetzung einer anderen Erzählung und dann der Etablierung eines kritischen Selbstbildes. In diesem Moment wurde die Erinnerungskultur aber «entlebendigt» und ging in ein rituelles Predigen über, das den Bezug zum gesellschaftlichen Prozess verloren hat.
Aber doch mit dem positiven Aspekt, dass nach 1945 Verfassungen oder eine Menschenrechtsverordnung entstanden, nach welchen gelebt wird, oder nicht?
Ja, das war das Gute, und natürlich auch die entsprechende Bildung. Westeuropa hat sich sehr stark liberalisiert und das auch in die Form der Sozialstaatlichkeit gegossen. Gegen diese zivilisatorische Entwicklung kann man wenig einwenden. Aber man müsste sie auch fortsetzen.
Verstehen Sie sich als Soziologen, der warnend in die Zukunft blickt, oder blicken Sie vielmehr zurück und sehen, was wir falsch gemacht haben?
Ich mache ja permanent Prognosen, aber es will sie keiner hören. Ich habe vor einer Weile von Vergangenheits- eher auf Zukunftsthemen gewechselt. Heute würde ich sagen: Beides ist gleichermassen wirkungslos – die relevanten Akteure interessiert das nicht. Wissenschaft findet in der Politik auf eklatante Weise kein Interesse, und das hatte ich früher anders gesehen; ich dachte, dass es irgendwann diffundiert.
...und in den USA ist das politische Klima eher wissenschaftsfeindlich geworden.
Auch das wird zu uns überschwappen. Wissenschaftsfeindlichkeit und Antiintellektualismus gibt es in Deutschland ja schon seit Jahren, und das ist ein Anknüpfungspunkt für die geradezu unfassbare Geschichte, die jetzt in den USA mit dem Bildungs- und dem Wissenschaftssystem passiert. Dazu kommt, dass in der Bevölkerung und insbesondere der Politik die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung viel zu wenig verstanden wird. Wir wissen, dass es Prozesse gibt, die eine solche Dynamik haben, dass selbst die handelnden Akteure gar nicht mehr so schnell mitkommen. Und ich fürchte, dass wir in Europa in der Entwicklung dieses ganzen rechtslibertären Syndroms längst nicht mehr Herr der Lage sind, weil die Dynamik auf der anderen Seite ist. Was daraus entsteht, lässt sich im Moment gar nicht antizipieren, und für eine erforderliche Neugründung Europas ist meine Aussicht eher negativ.
Sie haben schon vor einiger Zeit vor der Macht gewarnt, die bei den digitalen Medien liegt.
Ja, die Macht, die dort liegt, ist gigantisch. Und auch da gab es Stimmen aus Wissenschaft und Netzgemeinden, die vor den unglaublichen Abhängigkeiten, dem Kommunikationsmonopol warnten und anregten, ein öffentlich-rechtliches europäisches Netzwerk mit entsprechend unabhängigen Speichermöglichkeiten zu entwickeln. Ist aber alles nicht gemacht worden – eine total abgefahrene, schlimme Realitätsblindheit. Wer über die Kommunikationsmittel verfügt, kann Macht akkumulieren.
Seit 1945 ist viel erreicht worden in Sachen Demokratie, Menschen- und Völkerrechte etc. Und beginnt jetzt das Ende dieser Friedenszeit?
Ich weiss es nicht – das sind ja keine wissenschaftlichen Fragen. Meine Untersuchungen der gegenteiligen Entwicklungen sind immer damit verkoppelt, dass wir diese Dynamiken und Fehlentwicklungen beschreiben können. Aber wenn ich schon nur «Fehlentwicklung» sage, bin ich normativ. In der gegenwärtigen Situation kann ich nur sehr schwer trennen zwischen wissenschaftlicher Analyse und der Frage, was ich gegen negative Entwicklungen tun kann. Wenn es einem im Übrigen selbst an den Kragen geht, kann man auch nicht mehr so wissenschaftlich objektiv sein. Und auch wenn wir wissenschaftlich immer objektiv bleiben würden, würde das überhaupt nichts daran ändern, dass man im Zweifelsfall abgeschafft wird. Wir sind in einem Zwischenbereich zwischen Analyse und Aktivismus, in dem sehr viel passiert und sehr viel nicht absehbar ist.
Aber es geht ja um die Demokratie und die Dynamiken, die diese andernorts zerstört haben. Müsste man in Europa nicht eine Sicherheitsvorrichtung dagegen implementieren?
Ja, und zwar mit Höchstgeschwindigkeit. Man könnte dabei aus anderen Bereichen, etwa der Klimadebatte, lernen, wo in den letzten Jahren sehr stark das Mittel des Rechts angewendet wurde. Also ein grösseres Momentum erzeugen, indem man juristisch vorgeht. Das müsste man in diesen demokratiepolitischen Arenen auch lernen und viel mehr anwenden. Aber wenn die Verhältnisse sich erst mal autokratisiert haben, kommt man nicht mehr hinterher; in den USA wird das Recht von Trump und seinen Prätorianern ja einfach ignoriert. Wenn ich keinen Rechtsstaat mehr habe, kann ich es ignorieren; deshalb das Bestreben aller Autokraten, als Erstes das Rechtssystem anzugreifen. Das haben die ja gelernt. Aber wir haben in funktionierenden Rechtsstaaten noch diese Mittel, und darauf müsste man sich konzentrieren und sie einsetzen.
Meinen Sie damit Politik oder Zivilgesellschaft?
Von der Zivilgesellschaft. Die Politik ist ja kein aufmerksamer Akteur, was gefährliche Veränderungen anbetrifft.
Was konnte denn die Zivilgesellschaft bislang Grundlegendes verändern?
Sehr viel. Wenn man die Bundesrepublik Deutschland anschaut, haben die 68er-Bewegung zur Liberalisierung der Gesellschaft, die Antiatomkraftbewegung in ganz massiver Weise zum Ausstieg aus der Atomenergie, die Umweltbewegung zu immerhin temporären Veränderungen von Orientierungen geführt. Aber ich bin skeptisch, weil wir eine andere Drucksituation haben, bei der das militärische Element noch mit dazukommt. Wenn ich eine äussere Bedrohung habe, zieht sich die Aufmerksamkeit von den anderen Faktoren ab, und das werden wir auch sehen. Persönlich befinde ich mich da in der paradoxalen Situation, dass ich massiv für Dinge sein muss, gegen die ich bin.
... und dabei nicht mal wissen, ob das richtig ist?
Genau. Man muss in Deutschland für eine extrem schnelle Regierungsbildung sein, weil das für Europa wichtig ist und in Europa bestimmte Prozesse wie eine gemeinsame Aussen- und Verteidigungspolitik beschleunigt werden. In dem Kontext muss ich für Aufrüstung sein – alles das, was ich nicht will, was eigentlich nicht gut ist.
Sind Sie denn für Aufrüstung?
Es bleibt einem ja anscheinend gar nichts anderes übrig. Es ist zwar kein Lösungsansatz, aber im Zeitalter eines neuen Imperialismus tut man gut daran, sich nicht ohne Weiteres okkupieren zu lassen ... Ich muss also leider dafür sein, obwohl ich unter allen möglichen Aspekten total dagegen bin.
Wenn Sie am 8. Mai eine Rede an einer Veranstaltung halten würden, was wäre deren Inhalt?
Ich halte tatsächlich am 8. Mai eine Rede in Hannover und habe schon vor zwei, drei Monaten, bevor die Situation so angespannt wurde, mit den Organisatoren vereinbart, dass ich ganz sicher keine getragene Gedenkrede halten, sondern den Transfer zu gegenwärtigen politischen Prozessen herstellen werde. Ich habe sie noch nicht geschrieben, aber es wird hoffentlich keine petrifizierte Sonntagsrede werden!