im Gespräch 12. Sep 2025

«Europa bleibt ein jüdischer Ort»

Zentralratspräsident sieht in Europa eine jüdische Zukunft.

75 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland sind für Präsident Josef Schuster Anlass für Optimismus, Reflexion oder Namensänderungen.

tachles: 75 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland – ist das für Sie ein Grund zum Feiern?
Josef Schuster: Es ist ein bedeutender Einschnitt, ein Jubiläum, das man würdigen, aber nicht ausgelassen feiern muss. Unsere Geschichte in Deutschland nach 1945 ist zu fragil, zu gebrochen. Natürlich haben wir grosse Schritte gemacht, doch ich verbinde ein solches Jubiläum nicht mit Feiern im herkömmlichen Sinne.

Man könnte es auch anders sehen mit Blick auf die blühende jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Nach 1989 hat sich das Gemeindeleben durch Einwanderung revitalisiert. Wer hätte 1950 gedacht, dass so was möglich sein würde.
Absolut, 1950 hätte niemand ernsthaft gesagt: «In Deutschland wird es wieder lebendiges jüdisches Leben geben.» Weil alle Überlebenden damals primär Richtung Israel, USA oder andere sichere Orte schauten. Dass es 75 Jahre später hier eine vitale Gemeinschaft gibt, zeigt, wie Geschichte auch neue Wege nehmen kann.

Die Benennung «Zentralrat der Juden in Deutschland» betone das Diasporahafte, nicht das Ankommen. Sollten Sie nicht langsam den Namen in «Zentralrat der deutschen Juden und Jüdinnen» ändern?
Die Diskussion gab es – stark Ende der achtiziger Jahre. Dann kamen die grossen Einwanderungswellen aus der ehemaligen Sowjetunion. Damit wurde der Name fast doppelt legitimiert, denn er beschreibt Juden, die in Deutschland leben, egal woher sie kamen. Heute sehe ich keinen zwingenden Grund, den Titel zu ändern – der Name hat sich in gewisser Weise etabliert, ist ein Markenzeichen.

Ein Name ist aber auch Programm oder ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland eine auf Zeit?
Man kann das diskutieren, ich lehne den Gedanken gar nicht ab. Es wäre sicher ein Symbol. Aber ehrlich gesagt: Es ist nicht das dringendste Problem, das ich im Moment auf meiner Tagesordnung habe.

Blicken wir in die Geschichte: Von Karl Auerbach bis Heinz Galinski hatten Ihre Vorgänger regelmässig das Dilemma, dass die jüdischen Gemeinden von der Politik finanziell abhängig sind – auch wenn Vorstände und Präsidenten wie Sie ehrenamtlich arbeiten. Ohne staatliche Förderung gäbe es kein jüdisches Leben in Deutschland. Ist das nicht unemanzipiert?
Nach 1945 gab es keine Nachfolge der alten, vor 1933 existierenden jüdischen Organisationen. Das heisst, die Gemeinden mussten aus dem Nichts aufgebaut werden, mit viel Einsatz, wenig Mitteln und grossem Verantwortungsbewusstsein.

Das führt zu Abhängigkeiten. Sie müssten oft dieselben Politiker kritisieren, die auch Ihre Strukturen absichern. Wie gehen Sie damit um?
Es braucht Klarheit und gegenseitigen Respekt. Nur wenn die Notwendigkeit für bestimmte Positionen von beiden Seiten akzeptiert wird, funktioniert das Miteinander.

Sie haben Bildungsarbeit und akademische Projekte initiiert, etwa in Heidelberg die Hochschule, nun die jüdische Akademie, die im kommenden Jahr in Frankfurt eröffnet wird. Ist das der Versuch, jüdisches Leben auch über Bildung und Kultur sichtbar zu machen und nicht nur über Krisenberichterstattung?
Genau. Die Akademie ist dafür da, jüdische Inhalte aus dem Schatten des Negativfokus zu holen. Bereits zu meinem Amtsantritt war mir dieser Fokuswechsel sehr wichtig. Natürlich war mir bewusst, dass dieser Wunsch vielleicht zu fromm ist, weil das Medienecho meistens problemgetrieben bleibt. Aber trotzdem braucht es Orte, die die Vielfalt und Lebendigkeit zeigen – und genau das ist der Sinn der Akademie.

Jüdisches Leben in Deutschland ist sehr divers: Kann der Zentralrat tatsächlich ein Dachverband für alle Richtungen sein?
Die Mehrheit sind traditionelle oder orthodoxe Gemeinden, das stimmt. Aber der Zentralrat ist kein monolithischer Verband – Vielfalt ist möglich. Es ist nicht nötig, dass jede Strömung gleich stark repräsentiert ist. Wichtig ist, dass alle Platz finden.

Polen und Ungarn anerkennen «Vaterjuden», Deutschland nicht.
Wir richten uns nach den Regeln der Halacha. «Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat oder konvertiert», das ist die klare Grundlage. Personen mit jüdischem Vater allein – ohne jüdische Mutter oder Übertritt – sind nach unserem Verständnis keine Juden. Da gibt es in Deutschland keine Abweichung.

Rechtspopulistische Parteien sind auf dem Vormarsch – in Europa und in Deutschland. Bald könnte die AfD in deutschen Bundesländern in der Exekutive sein.
Ja. Ich mache mir grosse Sorgen. Die AfD gewinnt deutlich Stimmen hinzu, und das ist ein ernstes Problem. Zwar gibt es bislang die Brandmauer: Keine demokratische Partei koaliert mit ihnen. Aber die Gefahr ist offensichtlich.

Es gibt selbst kleine Gruppierungen von Juden in der AfD. Hat das kein Gewicht?
Nein. Diese Gruppen sind winzig und oft sind ihre Mitglieder nicht einmal halachisch jüdisch. Diese Gruppen und das angebliche «proisraelische» Auftreten der AfD ist für mich ein Feigenblatt. Dahinter bleiben antisemitische Grundmuster klar erhalten.

Bald jährt sich der 7. Oktober zum zweiten Mal, während der Krieg Israels in Gaza immer mehr eskaliert. Als einer der ersten haben Sie im Frühjahr die humanitäre Situation und Israels Kriegsführung angemahnt. Wie gehen Sie mit der Situation um?
Das war sehr schwer. Wir sind klar solidarisch mit Israel. Aber ich habe auch die israelische Regierung kritisiert, weil diese Kriegsführung Folgen hatte, die nicht zu übersehen sind. Man darf nicht alles in einen Topf werfen – antisemitische Erzählungen einerseits, berechtigte Kritik andererseits. Meine klare Position lautet: Die Hamas muss die Waffen niederlegen und die Geiseln freilassen. Dann kann man eine Lösung suchen.

Manche werfen Ihnen vor, Sie stünden damit Israel nicht genug bei.
Ich sehe das anders. Ich bin solidarisch mit Israel, aber das heisst nicht, kritiklos gegenüber der jetzigen Regierung zu sein. Auch in Israel selbst gibt es diese Debatten.

Wie hat der 7. Oktober jüdisches Leben in Deutschland verändert?
Sehr. Sicherheitsfragen sind stärker geworden. Nach Halle 2019 war das schon Thema, aber seit dem 7. Oktober ist die Angst grösser: Wer trägt sichtbar eine Kippa, wer nicht? Viele sind zurückhaltender geworden, weil sie Übergriffe fürchten.

Handelt es sich um ein spezifisch jüdisches Problem oder um eine generelle gesellschaftliche Verrohung, die auch andere betrifft, etwa Frauen in schwierigen Vierteln?
Es gibt Überschneidungen, ja. Aber Antisemitismus hat seine Spezifikation. In Berlin offen eine Kippa zu tragen ist ein konkreteres Risiko als nur ein allgemeines Unsicherheitsgefühl.

Was ist ihre Vision für die kommenden Jahre für Juden in Deutschland?
Mein Ziel ist eine stärkere Akzeptanz von Vielfalt. Es gibt Gemeinden, die unter einem Dach drei Arten von Minjanim versammeln – orthodox, traditionell und egalitär. Das ist für mich ein Bild der Zukunft. Also etwa nach dem Vorbild der jüdischen Gemeinde Frankfurt.

Das ist doch eher ein Einzelfall. Sind Sie da nicht Utopist?
Ich hoffe zumindest nicht, dass ich Utopist bin. Vor 20 Jahren war die liberale Bewegung marginalisiert. Heute werden neben orthodoxen Synagogen auch neue liberale Häuser gebaut. Entwicklungen sind möglich, wenn man daran glaubt.

Die Zeiten sind härter geworden für Juden weltweit und konkret auch in Europa. Hat jüdisches Leben in Europa eine Zukunft?
Ja, Europa ist und bleibt auch ein jüdischer Ort. Neue Synagogen entstehen, Gemeinden wachsen, jüdisches Leben wird gebraucht. Ich bin optimistisch. Wenn ich das nicht wäre, könnte ich mein Amt nicht weiterführen.

Yves Kugelmann