David Senesh ist klinischer Psychologe mit Spezialisierung auf posttraumatische Belastungsstörung und ehemaliger Kriegsgefangener des Jom-Kippur-Krieges – im Interview mit tachles spricht er über die psychische Verfassung der Geiseln.
tachles: Herr Senesh, Sie gerieten während des Jom-Kippur-Krieges in den Siebzigerjahren in Kriegsgefangenschaft. Können Sie unseren Lesern Ihre persönlichen Erfahrungen schildern?
David Senesh: Im Oktober 1973 wurden wir aufgrund der arroganten Selbstgefälligkeit der politischen und militärischen Führung Israels von Ägypten und Syrien angegriffen. Ich diente damals als 19-jähriger Soldat am Suezkanal, wir waren den angreifenden Armeen weit unterlegen. Nach drei Tagen aussichtsloser Kämpfe wurden wir gefangen genommen und als Kriegsgefangene nach Kairo gebracht, wo wir verhört, gefoltert und 40 Tage lang in Einzelhaft gehalten wurden. Ich habe daraus gelernt, dass Hochmut und ein übertriebenes Gefühl der Überlegenheit tödliche Folgen haben können. Das war damals so und hat sich im Oktober 2023 ebenfalls erwiesen.
Welchen Einfluss hatten Ihre persönlichen Kriegserfahrungen auf Ihre Berufswahl und Ihr Engagement?
Als Bildungsbeauftragter und später während meines Reservedienstes als Militärpsychologe hatte ich permanent das Gefühl, dass ich meinem Land, das mich aus der Gefangenschaft befreit hatte, etwas zurückzahlen musste. Nach Jahren der Psychotherapie und der Forschung gelangte ich zu einer anderen Perspektive: Der einzelne Bürger sollte im Mittelpunkt stehen. Der Staat muss dafür sorgen, dass seine Bedürfnisse nach Sicherheit, Wohlstand und Wohlergehen umfassend erfüllt werden. Ich glaube, dass das Studium und die Arbeit in Kanada und den USA und später das Leben in Deutschland meinen Blick für andere, nicht nationalistische Lebensweisen geöffnet haben.
Am Montag, dem 13. Oktober 2025, liess die Terrororganisation Hamas die letzten 20 lebenden Geiseln frei. Täuschen ihre verständliche Euphorie und Erleichterung über die Freilassung über den tatsächlichen körperlichen und seelischen Zustand der Geiseln hinweg? 
Es ist nachvollziehbar, dass es sich für die Geiseln und ihre Familien wie eine Wiedergeburt anfühlt, als würden sie eine zweite Chance im Leben bekommen. Doch diese Euphorie ist nur von kurzer Dauer, da die posttraumatische Phase später einsetzt und zu einem lebenslangen Kampf wird.
Erste medizinische Untersuchungen ergaben unter anderem Anzeichen von Folter und Unterernährung, dennoch wurden die ehemaligen Geiseln als erstaunlich stabil beschrieben. Wie beurteilen Sie diese Einschätzung?
Stabilität ist das am wenigsten zutreffende Merkmal der posttraumatischen Phase. Viele der Opfer und Überlebenden werden nicht in der Lage sein, das Gefühl der Kontinuität mit ihrem früheren Leben wiederherzustellen, und müssen einen neuen Sinnzusammenhang finden. Einige werden neben Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung auch Anzeichen von posttraumatischem persönlichem Wachstum zeigen.
Welche emotionalen und auch hormonellen Prozesse laufen bei traumatisierten Menschen ab?
Das Trauma ist im Körper gespeichert, der sich an die Schmerzen erinnert und unabhängig von rationalem Denken auf interne und externe Reize, auch Trigger genannt, reagiert, um zukünftige Gefahren zu antizipieren.
Werden die ehemaligen Geiseln jemals wieder ins «normale Leben» zurückfinden können? 
Das Leben nach einem Trauma wird von der Vorgeschichte der Betroffenen beeinflusst, da Resilienz und Vulnerabilität – manchmal aufgrund früherer kollektiver und persönlicher Traumata – die spätere Anpassung, das Wohlbefinden und die Lebensqualität beeinflussen.
Viele Geiseln berichten von psychischer und körperlicher Demütigung, einschliesslich sexualisierter Gewalt. Was bewirkt Demütigung bei einem Menschen?
Die Demütigung durch andere Menschen – auch durch Menschen, die als «Monster» oder «Tiere» betrachtet werden – ist ein schwerer Angriff auf das Menschheitsgefühl des Opfers und seinen Glauben an eine gerechte und humane Welt. Dies lässt sich nicht «ungeschehen machen», und es dauert Jahre, bis das Vertrauen in die Menschheit und in zwischenmenschliche Beziehungen wiederhergestellt ist.
Werden die ehemaligen Geiseln in Zukunft in der Lage sein, Empathie für die Sorgen und Nöte ihres sozialen Umfelds zu zeigen?
Komplexe Traumata und Misshandlungen wirken sich auf zukünftige Beziehungen aus. Diese Auswirkungen werden als «Dominoeffekt» bezeichnet. Sie können zu Zyklen unkontrollierter Aggression und Gewalt führen. Es erfordert viel Zeit und ein grosses Mass an Fürsorge sowie Mitgefühl, um Vertrauen und Zuversicht wiederherzustellen. Es ist ein lebenslanger Prozess.
Kann die lange Geiselnahme im Gazastreifen ein generationenübergreifendes Trauma auslösen, ähnlich wie das der Schoah?
Höchstwahrscheinlich. Trotz der Unterschiede im quantitativen Ausmass haben alle, die von dem Massaker betroffen waren, das extremste Grauen in seiner ganzen Bandbreite erlebt und es wird ein «Nährboden» für die nächsten Generationen sein, innerhalb der Familien und Gemeinschaften, in den politischen Strukturen und im Schulsystem.
Roei Shalev, ein Überlebender des Hamas-Terroranschlags auf dem Nova-Musikfestival, hat sich das Leben genommen. Die Terroristen hatten seine Partnerin getötet. Müssen wir mit weiteren Suiziden rechnen?
Selbstmorde können geschehen, wenn persönliche und professionelle Unterstützung den Schmerz und den Verlust nicht lindern können. Wir müssen unser Bestes tun, um zu helfen, aber auch unsere Grenzen erkennen. Lebenserfahrungen können verdrängt, aber nicht ausgelöscht werden, der seelische Schmerz kann bisweilen unerträglich sein.
Werden sich ehemalige Hamas-Geiseln mitunter schuldig fühlen, weil sie überlebt haben? 
Unabhängig von ihrem eigenen Leiden und seelischen Schmerzen fühlen sich Überlebende gegenüber anderen, die nicht überlebt haben, meist schuldig. Auch wenn dies rational keinen Sinn macht, ist es psychologisch nachvollziehbar, denn es ist Teil eines komplexen Trauerprozesses. Therapeuten können ihnen das nicht einfach «ausreden», sondern müssen vielmehr den Schmerz akzeptieren und auffangen und ihren Wunsch, zu leben und – trotz dieser Schuldgefühle – weiterzumachen, bestärken. Sie müssen auf ihrem Weg der Trauer und des Verlusts durch die verschiedenen Phasen der Verarbeitung begleitet werden. Für die meisten überlebenden Geiseln ist es schwer, die willkürlichen Verluste anderer, die sich in ihrer Nähe befanden und ähnliche gefährliche Bedingungen erlebten, zu verstehen oder einen Sinn darin zu sehen.
Wie können die ehemaligen Geiseln und ihre Familien unterstützt werden?
Nach dem Zusammenbruch der staatlichen medizinischen Behörden und dem Mangel an staatlich geförderten Dienstleistungen in Israel während des Krieges im Oktober 2023 füllten Freiwillige und NGOs diese Lücke. Am dringendsten sollten finanzielle Mittel für die psychische Gesundheit bereitgestellt werden, ein Sektor, der vor dem Oktober-Krieg sträflich vernachlässigt wurde. Medizinische und paraprofessionelle Akteure im Bereich der psychischen Gesundheit sollten aufgestockt und unterstützt werden, um sekundäre Traumatisierung und empathische Erschöpfung zu verhindern.
Anmerkung der Redaktion: Eine sekundäre Traumatisierung ist eine indirekte Traumatisierung, bei der eine Person durch aktives Helfen oder durch das Zuhören bei der Schilderung traumatischer Erlebnisse selbst posttraumatische Symptome entwickelt, ähnlich denen einer primär traumatisierten Person, wie etwa Angst, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen und Erschöpfung, erhöhte Reizbarkeit oder auch emotionale Taubheit.
 
   
       
       
 
 
 
 
 
