Wie der digitale Wandel den Literaturbetrieb verändert und was das für jüdisches Schreiben heute bedeutet.
«Hallo!»
«Hier Deutscher Literatur-Betrieb!»
«Hier Peter Panter. Sie hatten mir geschrieben; Ihr Herr Generaldirektor Bönheim möchte mich sprechen; es handelt sich um eine Revue …»
In Kurt Tucholskys Text «Die Zeit ruft nach Satire» von 1929 werden viele bekannte Künstlerinnen und Künstler der Weimarer Republik ohne Bezahlung und mit knapper Frist vom «Literatur-Betrieb» beauftragt, eine Revue zu verfassen und aufzuführen, die «spritzig, witzig» sein soll. Das Ergebnis missfällt dem Betrieb allerdings, da der Text zu politisch und kritisch sei, das Theater stellt ihn radikal um, und die Zeitungen verfassen vernichtende Kritiken. Das Publikum ist von alldem nur mässig beeindruckt.
Tucholsky gelingt es, die Kulturbranche in der Hauptstadt der Weimarer Republik in all ihrer Hektik und Schnelllebigkeit einzufangen. Berlin hatte bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts ein eigenes Zeitungsviertel, in dem Hunderte Druckereien, Verlagshäuser und auch das grafische Gewerbe ihren Sitz hatten. Die Anzahl der veröffentlichten Zeitungen und Bücher sowie das Aufkommen von Radio und Stummfilm weckten das Interesse an der «Massenkommunikation». Die jüdischen Forscher Leo Löwenthal und Siegfried Kracauer, beide Teil der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, beschäftigten sich später mit den Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft, etwa der Auswirkung der Literatur auf das bürgerliche Bewusstsein oder deren politische und soziale Funktion. Löwenthal gilt als einer der Pioniere der Literatursoziologie, deren zentraler Erkenntnisgewinn darin besteht, dass man Texte nicht «nur» als ästhetisches Objekt untersuchen, sondern auch als Ausdruck gesellschaftlicher Phänomene betrachten kann.
Dieser Ansatz gewann, zusammen mit der Kritischen Theorie, vor allem bis in die 1970er Jahre an Popularität. Dabei bildete sich der «Literaturbetrieb» als Begriff der Soziologie aus.
Blick auf heutige Verhältnisse
In meiner Dissertation beschäftige ich mich mit der Frage, wie es heute mit dem Literaturbetrieb steht und wie sich dieser auf jüdische Literaturen und jüdisches Schreiben auswirkt. Denn Literatur verändert sich in Zeiten des digitalen Wandels, sei es durch Social Media oder künstliche Intelligenz (KI). Während viele vor etwa 20 Jahren das Aufkommen von E-Books als das Ende der Buchbranche betrachteten, scheinen es heute KI-generierte Inhalte zu sein, die eine Herausforderung darstellen. Gleichzeitig nutzen viele Autorinnen und Autoren Social Media, um ein Publikum für ihre Texte zu begeistern, und Online-Beiträge wie #bookstagram oder #booktok erheben das Lesen zu einem angesagten Hobby.
Wie wird in diesem Gefüge jüdische Literatur geschrieben und vermarktet? Wie werden auf Social Media etwa Autofiktion oder das Aufarbeiten der eigenen Familiengeschichte rezipiert und welche Rolle spielt der eigene Bezug zum Judentum? Verändern sich dadurch die Themen jüdischer Literatur? Wie werden die Werke von Verlagen und Presse aufgenommen? Und: Welche Unterschiede gibt es zwischen Deutschland, der Schweiz und Österreich?
Diese Fragen beschäftigen mich, da ich nicht nur den Literaturbetrieb über viele Jahre in unterschiedlichen Rollen kennengelernt habe, sondern mich auch in meinem Studium mit jüdischer Literatur, Literaturgeschichte und Kultur auseinandergesetzt habe. Mit Literatursoziologie habe ich mich während meines Masterstudiums in Berlin vertraut gemacht, als Adornos «Aspekte des neuen Rechtsradikalismus» von 1967 in einer Neuauflage zum Bestseller avancierten und provokant gefragt wurde, ob Adorno nun zum «Kuschelphilosophen» einer breiten Öffentlichkeit verkomme.
Aus dieser Rezeption und dem Umgang der Literatur damit lässt sich ablesen, dass der Austausch zwischen Literatur und Gesellschaft nicht so reibungslos ist, wie es zunächst scheinen mag. Erwartungen, unterschiedliches Wissen und vielfältige Identitäten erzeugen Friktionen, die vielfältig ausgehandelt werden. Das lässt sich etwa an folgendem Ereignis zeigen: Die Autorin Dana Vowinckel nahm 2021 am Literaturwettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt mit ihrem Text «Gewässer im Ziplock» teil. Ihr Text über eine jüdische Familie zwischen Chicago, Berlin und Tel Aviv wurde von der Jury zum Teil missverstanden, auch durch fehlende Kenntnisse des Judentums. So von Juror Klaus Kastberger, dessen Äusserung im Protokoll der Jurydiskussion folgendermassen wiedergegeben wird:
«Der Text bewege sich mit seiner Thematik im Bereich eines ‹emerging market›, der Blick auf orthodoxes jüdisches Leben sei ein Thema, das in den letzten Jahren immer stärker aufgekommen sei. Es gebe anscheinend ein ‹neues Faszinosum›, die orthodoxen Welten vorgeführt zu bekommen. […] In manchen Fernsehserien zu diesem Thema seien die Brüche radikaler als im Text von Vowinckel.»
Dabei bezog sich Kastberger auch auf die Serie «Unorthodox», welche dessen Bild vom Judentum prägte. Dass es sich jedoch um unterschiedliche Strömungen des Judentums handelte und andere Perspektiven auf Identität und Familie von Vowinckel angesprochen wurden, schien er nicht wahrzunehmen. Die Diskussion fasste die Autorin so zusammen:
«Das war einfach symptomatisch dafür, was mit Juden in Deutschland gemacht wird seit dieser ‹Unorthodox›-Serie und den Reaktionen darauf. Die Leute stürzen sich darauf und denken, sie wären bessere Menschen, weil sie alle Atheisten sind.»
Und in der Schweiz?
Die Forschung zu deutschsprachiger jüdischer Literatur konzentrierte sich bisher vor allem auf Deutschland. Umso spannender erscheint es, Themen, Erzähltraditionen und Rezeption auch für die zeitgenössische jüdische Literatur der Schweiz zu erforschen. Mein Startpunkt hierfür ist die Anthologie «Zweifache Eigenheit. Neuere jüdische Literatur in der Schweiz», 2001 herausgegeben von Rafaël Newman und dem Schweizerischen Schriftstellerinnen- und Schriftsteller-Verband. Danach folgten Werke wie Charles Lewinskys «Melnitz» (2006) oder Thomas Meyers «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» (2012), die über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurden. Als neuere Beispiele möchte ich Nadine Olonetzkys Buch «Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist» (2024) nennen, das autobiografisch ist, und als Gegensatz, weil als Roman gekennzeichnet, Micha Lewinskys «Sobald wir angekommen sind» (2024). Dazu kommt Anna Rosenwassers «Rosa Buch. Queere Texte von Herzen» (2023), das Essays oder, laut Feuilleton, «aktivistische Texte» (Martina Läubli, «NZZ Magazin») versammelt. Darunter ist «Menora im Bild», worin sie sich mit dem jüdischen Teil ihrer Familie und Antisemitismuserfahrungen auseinandersetzt. Diese Titel lassen erahnen, dass im Literaturbetrieb auch in der Schweiz ein spannender Austausch mit jüdischer Literatur stattfindet, wenn auch vielleicht nicht ganz so hektisch wie zu Tucholskys Zeiten.
Was mich an diesem Forschungsfeld so fasziniert, ist die Gleichzeitigkeit von Sichtbarkeit und Missverständnis. Jüdische Literatur ist da – sie wird gelesen, ausgezeichnet, diskutiert. Und doch bleibt häufig unklar, was genau gesehen wird – und was nicht. Gerade der Umgang des Literaturbetriebs mit jüdischen Autorinnen und Autoren, ihren Texten, Themen und Perspektiven, sagt viel darüber aus, wie wir als Gesellschaft mit Erinnerung, Identität und Differenz umgehen.
Mit meiner Dissertation möchte ich einen Beitrag dazu leisten, diese Wechselwirkungen besser zu verstehen – und dabei auch jenen Stimmen Raum geben, die sich nicht nahtlos in bestehende Erwartungshaltungen fügen. Denn Literatur ist nicht nur Spiegel, sondern auch Störung. Sie fordert heraus, irritiert, verschiebt Perspektiven – genau darin liegt ihre gesellschaftliche Kraft.
Kathrin Knapp ist Assistentin für Jüdische Literatur am ZJS.