editorial 05. Sep 2025

Präsent wie nie zuvor

Liebe Leserinnen, liebe Leser

«Mögest du in interessanten Zeiten leben», lautet ein bekannter chinesischer Fluch. Tatsächlich können wir uns die Zeiten, in denen wir leben, nicht aussuchen – aber wir können versuchen, sie als Herausforderung zu begreifen, uns zu bewähren. Zeiten, die so nachhaltig «interessant» waren wie die gegenwärtige, insbesondere seit dem 7. Oktober 2023, hat die jüdische Gemeinschaft über viele Jahrzehnte nicht erlebt. Der öffentliche und der universitäre Raum sind gleichermassen aufgeladen mit gestiegener, oft vorurteilsgeladener Ablehnung, teilweise aber auch mit echtem Interesse für Israel und das Judentum.

In dieser Situation kommt den Jüdischen Studien eine Aufgabe zu, die weit über das übliche Lehren und Forschen hinausgeht. Es ist an unserem Fach, zu zeigen, dass Universitäten der Ort sein können, ja sein müssen, aufgeheizten öffentlichen Diskursen und oberflächlichen Meinungsbekundungen die wissenschaftliche Analyse und differenzierte Debatte entgegenzusetzen. In zwei Semesterveranstaltungen im Frühjahr 2025, einer Ringvorlesung und einem Kolloquium, haben wir dies gemeinsam mit den Nahoststudien versucht. Wie der Beitrag von Erik Petry in diesem Heft zeigt, haben sich die Bemühungen von ihrer Breitenwirkung wie auch der Durchdringung des Themas her gelohnt.

Die hohe Präsenz der Jüdischen Studien wird aber nicht nur von Dozierenden-, sondern auch von Studierendenseite empfunden und gelebt. «Wir sind da», lautet denn auch das Motto, unter dem Serkan Abrecht als Vertreter der Fachgruppe Jüdische Studien das vergangene Jahr zusammenfasst.

Dass sich inmitten von solch drängenden politischen Fragen noch an anderen wichtigen Themen arbeiten lässt, zeigen die weiteren Beiträge dieser Beilage: Kathrin Knapp stellt ihr Dissertationsthema vor, das sie im Rahmen ihrer im vergangenen Jahr angetretenen Assistenz für Jüdische Literatur bearbeitet – ein Durchleuchten der Bedingungen jüdischer Literatur im deutschsprachigen Raum heute. Catrina Langenegger, die als Mitarbeiterin der Universitätsbibliothek derzeit den Altbestand der Bibliothek der Israelitischen Gemeinde Basel erschliesst, fördert dessen kulturhistorische Schätze zutage. Dodo Dürrenberger und Lea Levi berichten von einer faszinierenden Studienreise, bei der Dozierende und Studierende der Jüdischen Studien und der Osteuropäischen Geschichte in den Städten Poznań und Wrocław die komplexen Fragen nach Funktion und Wirkungsmacht von Erinnerung an Orten von einstiger Vernichtung und Zwangsumsiedlung zu ergründen versuchten. Das Titelbild dieser Ausgabe zeigt ein Modell der Neuen Synagoge Posens vor dem Umbau und der Profanierung durch die Nationalsozialisten in ein Schwimmbad, welches beim Erinnerungsverein «Lazęga Poznańska» zu sehen ist. Und Anna Schneider gibt einen Einblick in die Zugänge zum Thema «Dummheit», das an der Jahrestagung der Theologischen Fakultät unter Federführung der Jüdischen Studien im Zentrum stand.

Auch eine internationale Konferenz richtete das Zentrum für Jüdische Studien (ZJS) zusammen mit dem Buber-Rosenzweig-Institut der Goethe-Universität Frankfurt a. M. und der Gesellschaft für europäisch-jüdische Literaturstudien in diesem Jahr in Basel aus. Sie war dem Thema «Widerstand. Jüdische Literatur als Mittel gesellschaftlicher und politischer Teilhabe» gewidmet. Judith Müller, frühere Assistentin am ZJS und heutige Mitarbeiterin am Buber-Rosenzweig-Institut, hat die Tagung mitorganisiert und berichtet in diesem Heft darüber.

All die geleistete Arbeit – in «interessanten» wie in hoffentlich bald wieder weniger aufregenden Zeiten – kann nur stattfinden dank des Engagements einer grossen Zahl von Menschen. Auch dieses Jahr soll deshalb jenen gedankt sein, die sich für das ZJS einsetzen – allen voran der Stiftung für Jüdische Studien, aber auch anderen Gönnerinnen und Gönnern, Freundinnen und Freunden, der Leitung und dem Sicherheitsdienst der Universität und nicht zuletzt allen unseren Mitarbeitenden und Studierenden, ohne die wir unser Fach niemals, und schon gar nicht in diesen Zeiten, so sichtbar und wirkungsvoll in der universitären Landschaft vertreten könnten.

Alfred Bodenheimer, Leiter des Zentrums für Jüdische Studien der Universität Basel.