Das Jüdische Logbuch 23. Nov 2018

Europa im Dreiklang mit Celan und De Sica

Europa, Oktober und November 2018. Betroffen verlassen Menschen in Basel das Kino. Eine Regierung setzt mit Poesie einen Mahnruf gegen die Gegenwart. Es gibt keine Toten in «Die Gärten der Finzi Contini». Doch der Tod ist überall. In jedem Lachen, jeder Einstellung, jedem Dialog schwingt er mit, wenn der Regisseur Vittorio De Sica so subtil, so fein, so glanzvoll unoffensichtlich die Mechanismen für den Massenmord freilegt. Herbstzeitlose mit Vogelzwitschern im Bild – nur nicht mehr am Ende.

Tanger. Der Blick auf Europa gerichtet. Vom Atlantik stürmt es durch die engen Gassen. Die Vogelschwärme aus Andalusien lassen sich vom Wind hinüber gen Süden tragen. Die Sonne brennt noch warm. Das Meer leuchtet blau in blau. Nur wenige Schiffe legen ab. Die weissen Wolken ziehen rasch über die Meerenge von Gibraltar. Afrika hat Europa im Blick. Dort wo einst Migration, Handel und kultureller Austausch zwei Kontinente verbanden, herrscht heute Restriktion und Abschottung. Und trotzdem hoffen viele auf eine Zukunft jenseits des Meeres. Viele Tausende haben die 14 Kilometer nicht geschafft in ihren kleinen Booten. Das Meer hat sie verschlungen. Nur wenige werden irgendwann an Land und in anonyme Gräber gespült.

Paris. Die Vögel pfeifen fröhlich. Immer noch. Ein milder Herbst in stürmischen Zeiten. Die Pflastersteine in Saint-Germain-des-Prés sind überdeckt mit Herbstblättern. Wie ein Zwiegespräch im Park singen die Vögel von den nackten Bäumen auf dem Spaziergang durch den Jardin du Luxembourg in Richtung Antiquariat mit Schriften von Marcel Proust bis Joseph Roth – aus anderen Zeiten? Es sind die Tage der Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkrieges. Die Fernsehbilder im Hotelzimmer zeigen die Gedenkfeierlichkeiten in Frankreich – und minutenlang Friedhöfe gefallener Soldaten. Beim Gang durch die Strassen Richtung Place de la Concorde ziehen die Konvois der Staatsgäste vorbei. Am selben Abend wird die deutsch-französische und somit europäische Freundschaft zementiert. Zukunft, gebettet auf Gräbern.

Hamburg. Die Vögel zwitschern fröhlich. Auch hier. Zwischen den Pflastersteinen leuchten bronzene Erinnerungssteine mit Namen der enteigneten und deportierten Juden. Einst haben sie hier gewohnt. Die verstorbenen Blätter fallen von den lebenden Bäumen auf die Gedenksteine der Ermordeten. Die Natur überlagert die Kreatur. Sie provoziert die Frage, ob Mord und Totschlag Teil der Natur sind, wenn sie von Menschen begangen worden sind.

Budapest. Die Vögel pfeifen, als wollten sie das Frühjahr einläuten. Doch der Winter wird heftig werden. Der Blick über die Donau von Pest nach Buda auf das prächtige Parlament. In diesem herrscht Viktor Orbán und die langsam voranschreitende Gleichschaltung. Die freien Medien sind Vergangenheit. Nun hat das Regime die Justiz im Auge. In den Cafés, auf den Strassen herrscht buntes Treiben. Irgendwie wollen die Nachrichten über Ungarn nicht zusammenpassen mit den Bildern auf den Strassen. Noch nicht. Die grossartige ehemalige 
k.-u.-k.-Stadt zwischen vergangenem Kommunismus und Kriegen ist heute ein Wall gegen Norden. Wall gegen Westen. Wall gegen Europa?

Warschau. Die Bäume ragen hoch hinauf in den Herbsthimmel. Die Vögel pfeifen Hoffnung auf dem grössten jüdischen Friedhof Europas. Soeben hat es noch geregnet und nun öffnete sich der Himmel. Ein Ort der Ruhe mitten in der Stadt. Er zeugt von Jahrhunderten blühenden jüdischen Lebens. Bis 1939 haben es die Juden in Gräber mit Grabsteinen geschafft. Danach waren es Massengräber ohne Namen und schliesslich nicht mal mehr das: Sie gingen auf in Rauch und «schaufeln» nach Paul Celan «ein Grab in den Lüften / da liegt man nicht eng». Die gefallenen Herbstblätter türmen sich an den Wegrändern und vereinen sich zu einem impressionistischen Bild aus Steinen, Bäumen, verschlungenen Wegen. Der Tod ist überall – und doch so versöhnlich. Ist der Tod gar ein Meister aus Europa, wenn er doch schon einer aus Deutschland war?

Venedig. Zurück in der Lagune. Die Hochwasser fliessen ab und geben die Plätze und Wege wieder frei. Wird der Klimawandel Venedig zuerst versenken? Im ältesten jüdischen Ghetto herrscht touristische Betriebsamkeit. Die Herbstfahrt durch Europa ist eine in die Geschichte. Eine absurde mehr denn eine nostalgische. Eine Reise über ein Totenmeer der Jahrhunderte, durch den Kontinent der Ermordeten, auf einem Planeten wider die Lebenden. Werden die Vögel pfeifen an dem Tag, an dem Lebewesen anderer Galaxien die Erde entdecken und wenigstens die Grab-, Stolper- und Gedenksteine, Pyramiden und Inkatempel sehen werden?

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann