Talmud heute 06. Jun 2025

Zwischen Rabbi Zadok und Or Levy

Alle jüdischen Feiertage haben in Jerusalem ein besonderes Flair. Am Sukkot ist es ein spezielles Erlebnis, die vielen verschiedenen Laubhütten in der Stadt zu erspähen. Am Chanukka erhellen, wo man auch nur hinschaut, Chanukkalichter die Finsternis. An Rosch Haschana und an Jom Kippur durchweht die Ehrfurcht der hohen Feiertage die israelische Hauptstadt. Mein liebster Feiertag in Jerusalem ist jedoch Schawuot, das Wochenfest, welches vergangenen Montag begangen wurde.

Am Abend dieses Feiertags wird in der ganzen jüdischen Welt Thora gelernt, dem Erhalt der göttlichen Lehre am nächsten Morgen entgegenblickend. Dieser Brauch wird «tikkun leyl schawuot» genannt, was man mit «Korrektur der Schawuot-Nacht» übersetzen könnte. Gemäss dem Midrasch (Schir haschirim rabba 1:12) hatten nämlich die Israeliten die grosse Offenbarung Gottes am Berge Sinai schlicht verschlafen, worauf sie Gott wortwörtlich wachrütteln musste: «Als nun der dritte Tag kam und es noch früh war, erhob sich ein Donnern und Blitzen und eine dicke Wolke auf dem Berg und der sehr starke Ton eines Schofars; da erschrak das ganze Volk, das im Lager war» (2. B. M. 19:16). Mosche musste daraufhin seine Schlafmützen der göttlichen Offenbarung entgegenführen: «Und Mosche führte das Volk aus dem Lager Gott entgegen, und sie stellten sich unten am Berge auf» (19:17). Gemäss einer Meinung wurzelt also der Brauch des nächtlichen Lernens zu Schawuot im Versuch, das peinliche Verschlafen unserer Vorfahren durch gemeinsames Lernen und Antizipieren der göttlichen Lehre gewissermassen einem «tikkun», einer «Korrektur», zu unterziehen.

Die Schawuotnacht ist in Jerusalem ein unvergessliches Erlebnis. Tausende von Menschen finden sich in verschiedenen Synagogen, Lernzentren oder Familienhäusern zusammen, um gemeinsam Thora zu lernen und zu diskutieren. Da das Angebot so dicht und vielfältig ist, geht man gerne von einem Ort zum anderen, um verschiedene Redner beziehungsweise Aspekte des Judentums kennenzulernen. So kann man von den Abendstunden nach dem Festmahl bis zur Morgenröte in den Jerusalemer Strassen unzählige Menschen antreffen, die sich gerade auf dem Weg zu einer Lernstunde befinden. Meines Erachtens widerspiegelt dieses Phänomen die Quintessenz des Judentums: Friedliches, gemeinsames Studieren und Debattieren der reichhaltigen jüdischen Gedankenwelt.

Als ersten Vortrag um 23.00 Uhr wählte ich jenen von Mosche Schapira, dem Vater des jungen Helden Aner Schapira, der bei der Hamas-Attacke am 7. Oktober 2023 zehn Menschenleben gerettet hatte, indem er sieben Handgranaten der Hamas-Terroristen mit blossen Händen zurückwarf, ehe ihn die achte umbrachte. Mosche erzählte von einem der bewegendsten Momente in seinem Leben, nämlich dem Treffen mit Or Levy, der vor vier Monaten nach 491 Tagen Hamas-Gefangenschaft befreit werden konnte. Er hatte zusammen mit seiner Frau Eynav in jenem Luftschutzbunker Zuflucht gesucht, in welchem sich auch Aner eingefunden hatte. Aner und Eynav wurden von den Terroristen ermordet, Or Levy wurde nach Gaza verschleppt. Einer seiner ersten Wünsche nach der Befreiung sei gewesen, die Eltern von Aner schnellstmöglich kennenzulernen. Mosche und seine Frau Schira eilten daraufhin in das Soroka-Spital, wo der sich eben befreite Or aufhielt. Mosche schilderte, dass er die Umarmung mit Or nie vergessen werde. Dieser war durch die unmenschliche Behandlung der Hamas vollkommen abgemagert. Als Mosche ihn umarmte, spürte er nichts als Knochen und Haut. Dann aber erzählte Or den Eltern von Aner anderthalb Stunden voller Energie und Kraft, was sich genau in der letzten halben Stunde des Lebens ihres Sohnes zugetragen hatte. Mosche sagte, dass er nie eine solche Diskrepanz zwischen Materie und Geist erlebt habe: einerseits den beinahe inexistenten Körper und andererseits den hellwachen, dankbaren und Trost spendenden Geist.

Diese Schilderungen von Or erinnern mich an die legendäre Figur des Rabbi Zadok, eines Mischna-Gelehrten in Jerusalem im ersten Jahrhundert: «Rabbi Zadok verweilte vierzig Jahre im Fasten, auf dass Jerusalem nicht zerstört werde, sodass, wenn er etwas ass, man dies von aussen sehen konnte. Zur Kräftigung holte man ihm eine Feige, und er sog den Saft aus» (Talmud Gittin 56a). Als Rabbi Jochanan ben Sakkai beim römischen Heerführer Vespasian vorstellig werden konnte, gewährte ihm dieser drei Wünsche. Die ersten beiden Wünsche, die Rabbi Jochanan daraufhin äusserte, machten durchaus Sinn: «Gib mir die Stadt Jawne und seine Weisen sowie die Dynastie Rabban Gamliels.» Der Fortbestand Jawnes sowie der Rabbinerkette der Familie Gamliels, welche den Vorsitz des Sanhedrins, des obersten jüdischen Gerichtes, bekleidete, waren in der Tat lebensnotwendig für das nationale und geistige Überleben des Judentums nach der Tempelzerstörung. Der dritte Wunsch Rabbi Jochanans, den er dem anstehenden römischen Kaiser Vespasian abluchste, war jedoch höchst überraschend: «Gib mir Ärzte, die Rabbi Zadok heilen können» (Gittin 56b). Wie konnte es sein, dass Rabbi Jochanan ben Sakkai der Rettung eines einzigen Individuums dermassen hohes Gewicht schenkte? Gab es nicht noch andere wichtige nationale Interessen? Rabbi Jochanan betrachtete die Persönlichkeit Rabbi Zadoks jedoch als Symbol, das es unbedingt zu retten galt! Rabbi Zadoks völlig ausgemergelter Körper spiegelte das zerstörte Judäa wider. Wie jedoch sein Geist einwandfrei weiterfunktionierte, so würde sich auch der Geist Israels von dieser Katastrophe nicht beirren lassen und weiterleben. Gleichermassen sind Or Levy sowie alle anderen befreiten Geiseln ein Symbol für die Kraft Israels. Selbst wenn das Böse versuchte, ihren Körper zu zerstören, liess sich ihr Geist nicht unterkriegen. Mögen Ors Brüder und Schwester, die noch immer in den Tunneln Gazas schmachten, bald in seine Fussstapfen gehen und in Freiheit ihre Körper und Seelen heilen lassen.

Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem.

Emanuel Cohn