standpunkt 10. Jan 2025

Vor der rechtsradikalen Machtübernahme

Das politische Drama im Nachbarland Österreich geht in die nächste Runde: Der Chef der rechtspopulistisch-rechtsradikalen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Herbert Kickl, bereitet eine Koalition mit der bisherigen christlich-sozialen Regierungspartei ÖVP vor. Die FPÖ war mit 28,8 % zwar Wahlsiegerin der Nationalratswahlen Ende September, lag jedoch lediglich 2,5 % vor der ÖVP. Dennoch inszeniert sich Kickl mit beispielloser Überheblichkeit und Arroganz als allmächtiger Sieger, der der nunmehr zur Juniorpartnerin degradierten und peinlich unterwürfigen ÖVP die Bedingungen diktiert: Die ÖVP solle «keine Mätzchen» machen, geschlossen auftreten und eingestehen, dass sie die Nation budgetär in eine Krise geführt habe. Andernfalls droht Kickl unverhohlen mit der Erzwingung von Neuwahlen.

Er tut dies aus einer Position der Stärke: In Umfragen erreicht die FPÖ bereits 35 % Zustimmung – mit steigender Tendenz. Ein Wahlergebnis von 50 % scheint nicht mehr utopisch. Sollte es so kommen, wäre die österreichische Demokratie akut gefährdet. Die Sozialdemokraten (SPÖ), grosse Verlierer der letzten Wahlen, liegen am Boden, und die ÖVP ist gedemütigt und in Trümmern.

Die FPÖ wurde 1955 als Nachfolgerin des Verbands der Unabhängigen (VdU) gegründet – einer Partei, die als Sammelbecken für ehemalige Nationalsozialisten, Neonazis und wohl auch tatsächliche NS-Verbrecher diente. FPÖ-Politiker und -Anhänger lassen sich regelmässig zu antisemitischen Ausfällen hinreissen, die anschliessend als vernachlässigbare «Einzelfälle» abgetan werden.

Versuche der FPÖ, an der politischen Macht teilzuhaben, endeten wiederholt in Skandalen und Desastern. Das grosse Idol der Partei, Jörg Haider, verunglückte 2008 tödlich, als er sturzbetrunken seinen Dienstwagen gegen eine Wand steuerte. Sein Nachfolger Heinz-Christian Strache geriet in das berüchtigte «Ibiza-Video», das ihn bei korrupten Machenschaften zeigte, und wurde in der Folge in mehrere Korruptionsskandale verwickelt.

Der als extremistisch geltende Herbert Kickl war lange Zeit auch für die ÖVP und Bundespräsident Alexander Van der Bellen inakzeptabel. Daher beauftragte das Staatsoberhaupt zunächst den ÖVP-Chef mit der Regierungsbildung – ein Schritt, der sich als Fehlkalkulation herausstellte. Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS bleibt nun nur noch die Option einer Koalition unter Kickl als Kanzler mit der ÖVP im Schlepptau.

Dass Kickl ein Team in die Verhandlungen führt, das aus deutschnational gesinnten Burschenschaftern, einer Kontaktperson zu den rechtsextremen Identitären und einer Orbán-Sympathisantin besteht, nährt die schlimmsten Befürchtungen. Innen- und aussenpolitisch dürfte dies massive Konsequenzen haben: Die FPÖ ist prorussisch, dezidiert gegen die EU, lehnt das europäische Luftverteidigungssystem Sky Shield ab und sieht sich als Schülerin des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, bezeichnete Kickl als «widerwärtig und antisemitisch» und bewertete den Wahlerfolg der FPÖ als «bedrohlich».

Europäische rechtsgerichtete Parteien hingegen reagierten einhellig positiv auf den FPÖ-Sieg. Alice Weidel, Vorsitzende der AfD, gratulierte den Gesinnungsgenossen, und Geert Wilders von der niederländischen Partei für die Freiheit sprach von einem «Sieg für Identität, Souveränität und Freiheit». Jordan Bardella, Vorsitzender des französischen Rassemblement National, zeigte sich stolz, «neben den Verbündeten der FPÖ im Europäischen Parlament zu sitzen».

Doch es gibt auch warnende Stimmen. Das Internationale Auschwitz-Komitee bezeichnete den Wahlerfolg der FPÖ als «neues alarmierendes Kapitel» für die Überlebenden der Schoah.

Mit dem Machtantritt der FPÖ und ihres öffentlichkeitsscheuen Vorsitzenden, der sich lieber «im Maschinenraum als beim Kapitänsdinner» sieht, öffnet Österreich ein dunkles Kapitel, das die Nation jahrzehntelang verdrängte. Nun wird es an Bundespräsident Van der Bellen liegen, die Einhaltung der demokratischen Grundprinzipien zu überwachen – eine Aufgabe von enormer Tragweite in einer zunehmend polarisierten Republik.

Charles E. Ritterband ist langjähriger Auslandskorrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung» in Jerusalem, Washington, London, Buenos Aires, Wien und Journalist bei tachles.

Charles E. Ritterband