Als ich ein kleiner Junge war, benutzten wir unter Freunden manchmal die Terminologie «Mizwa- und Awejre-Punkte». In anderen Worten: Wenn jemand von uns eine gute Tat vollbrachte, riefen wir ihm zu: «20 Mizwa-Punkte!» Wenn er oder sie jedoch etwas Schlechtes tat, posaunten wir stolz: «30 Awejre-Punkte» («Sünden-Punkte»)! Wenn ich heute auf diese Terminologie zurückblicke, ist mir selbstverständlich klar, dass wir Dreikäsehochs uns schon damals bewusst waren, dass diese Wortwahl nicht ernst zu nehmen ist. Aber in jedem Witz steckt bekanntlich ein Stückchen Wahrheit. Wenn man sich heute umschaut beziehungsweise umhört, kann man überraschenderweise feststellen, dass diese Terminologie aus dem ersten Lebensjahrzehnt, wenn nicht im Sprachgebrauch, dann doch in den Köpfen einiger religiöser Erwachsener anzutreffen ist. Diese Anschauung ist das Spiegelbild eines erlebten Judentums, das zu einem quantifizierten System aus Plus- und Minuspunkten geworden ist. Auf der einen Seite stehen die Verdienste, auf der anderen die Sünden, und in einem steten Kampf gilt es, der ersten Gruppe, wenn nicht einen K. o.-, dann wenigstens einen Punktesieg zu bescheren.
Wie konnte es zu einer solch oberflächlichen, simplistischen und nicht nur philosophisch, sondern auch pädagogisch höchst problematischen Weltanschauung kommen? Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entstehung dieser Betrachtungsweise muss man wohl bei einzelnen Quellen der klassischen jüdischen Literatur zum Thema «Teschuwa» («Umkehr») suchen. Dieses Thema kommt in unserem Wochenabschnitt «Nizawim» («gerade stehen»), welcher nicht zufällig am Schabbat vor Rosch Haschana, dem Tag des Gerichts, gelesen wird, vor (5. B. M. 30:1–10). Eine erste systematische Gliederung dieses fundamentalen Themas lässt sich im 12. Jahrhundert bei Maimonides finden. In seinem halachischen Gesetzeskodex «Mischne Thora» fasst er zehn ausführliche Kapitel unter dem Titel «Hilchot Teschuwa» («Gesetze der Umkehr») zusammen. Zu Beginn des dritten Kapitels schreibt er: «Jeder Mensch hat Verdienste und Sünden. Wer mehr Verdienste als Sünden hat, ist ein Gerechter. Wer mehr Sünden als Verdienste hat, ist ein Bösewicht (...). Genauso steht es mit Staaten: Ergibt die Summe der Verdienste seiner Bewohner mehr als die Summe der Sünden, so ist es ein gerechter Staat. Sind aber seine Sünden in der Überzahl, so ist es ein böser Staat. Und genauso steht es mit der ganzen Welt.» Was sind die Konsequenzen dieser mathematisch-statistischen Weltordnung? Maimonides schreibt weiter: «Ein Mensch, dessen Sünden die Verdienste überwiegen, stirbt sofort (...), und auch ein Staat, dessen Sünden überwiegen, geht sofort zugrunde (...), und so auch die ganze Welt.»
Wenn man diese halachische Quelle liest, hat man ein Problem. Erstens kennen wir heute mehr denn je individuelle Bösewichte sowie Terrorstaaten, die ganz zufrieden ihr Dasein fristen. Von einem sofortigen, sintflutartigen Zugrundegehen kann also leider nicht die Rede sein. Zweitens hinterlässt Maimonides beim Leser, zusätzlich zum sichtlichen Widerspruch dieser Quelle zur Realität, auch einen unangenehmen Nachgeschmack, scheint er doch das Judentum in diesen kindisch anmutenden Sumpf von «Mizwa- und Awejre-Punkten» zu ziehen. Doch Maimonides wäre nicht Maimonides, wenn er sich dieser Problematik nicht bewusst wäre. Er schreibt weiter: «Diese Abrechnung basiert nicht auf der Quantität der Verdienste beziehungsweise der Sünden, sondern auf deren Grösse. Es gibt Verdienste, die vielen Sünden entsprechen (…) und es gibt Sünden, die vielen Verdiensten entsprechen.» Wir fühlen uns nun schon etwas besser. Aber immer noch nicht gut. Denn heisst das, dass man ein Vergehen der Zehn Gebote so ungefähr mit mehreren Verdiensten neutralisieren kann? Führt das nicht zu verrückten Rechnereien in verrückten Menschenköpfen? Auch dieser Möglichkeit scheint sich Maimonides bewusst gewesen zu sein, holt er doch zum eisernen Schlusssatz aus: «Die Abrechnung kann nur durch die göttliche Weisheit erfolgen, denn er ist der Einzige, der weiss, wie man die Verdienste den Sünden gegenüberstellen kann.» Jetzt sind wir zwar endgültig beruhigt, aber wiederum verwirrt. Wenn nämlich diese sämtlichen rechnerischen Abwägungen lediglich von Gott verstanden und vollzogen werden können und man also einem scheinbaren Schurken, der nach «göttlicher Rechnung» aber gerecht ist, begegnen kann – weshalb dann die Offenlegung dieses ganzen Konzepts? Wieso über Bösewichte schreiben, die bei Sündenmehrheit sofort tot zusammenzubrechen haben, wenn diese Realität «nach Gott Riese» keine praktische Relevanz in dieser Welt besitzt? Was haben metaphysische Überlegungen in einem Gesetzesbuch verloren?
Maimonides war sich dieses Problems bewusst, befand es aber trotzdem für richtig, das grundlegende Konzept in seinem Werk darzulegen, selbst wenn es keine praktische Bedeutung hat: «Deshalb muss sich jeder Mensch betrachten, als ob er halb schuldig, halb unschuldig ist, und genauso die ganze Welt. Hat er eine schlechte Tat vollbracht, so hat er seine Waagschale sowie die der gesamten Welt auf die Seite der Schuld gebracht und zu ihrer Zerstörung geführt. Hat er aber eine gute Tat vollbracht, so hat er seine Waagschale sowie die der gesamten Welt auf die Seite des Verdienstes gebracht und zur Rettung der Welt geführt» (Hilchot Teschuwa 3: 1–4). Hier kommt der grosse Pädagoge Maimonides zum Vorschein. Es geht hier also nicht um ein kosmisches Reglement, sondern um die Frage, wie sich ein Mensch betrachten soll und wie diese Selbstbetrachtung auf des Menschen Handeln und Wandeln positiven Einfluss gewinnen kann.
Das System von Plus- und Minuspunkten ist also in seiner primitiven Form bedeutungslos. Wenn es jemanden auf der psychologischen Ebene jedoch dazu animieren sollte, mehr gute Taten zu vollbringen, so darf man ruhig in «Mizwa- und Awejre- Punkten» denken. Man muss einfach nur aufpassen, dass man sich dabei nicht zu ernst nimmt.
sidra nitzawim
19. Sep 2025
Von Mizwa- und Awejre-Punkten
Emanuel Cohn