Sidra Nasso 06. Jun 2025

Spielen mit der Sprache

Meine Freundin Noemi, eine begnadete Kantor-Studentin, gelangte mit einer grossen Bitte an mich. Sie wollte sich allmählich mit Talit und Tefilin vertraut machen, dies auch, weil das Seminary dies in den frühen 1990er Jahren im Rahmen der Bemühungen um Gender-Gleichberechtigung den Studentinnen empfahl. Ich selber hatte mich mit Talit rasch angefreundet, mit Tefilin etwas weniger. So verstand ich gut, dass Noemi gewisse Hemmungen hatte. Deswegen wollte sie diesen Schritt, fast wie eine Rollenübung für einen Auftritt, im geschützten Rahmen ihres privaten Zimmers einstudieren, schliesslich sei Beten ja ein Auftritt vor Gott, was bitte andächtig umzusetzen sei. Mit ihrem Hang zum Theatralischen mussten wir gar das Aufwachen am frühen Morgen üben… Und dann war ich als Coach dran. Sie sollte spüren, dass dieser spezielle Augenblick nur für sie persönlich sei. Als sie in ihrem heiligen Outfit vor mir stand, gab ich ihr, ihrem Wunsch nach Andacht Rechnung tragend, den einschlägigsten Text unserer Liturgie mit auf den Weg: Schma Jisrael …, doch anstelle von Jisrael nannte ich sie bei ihrem Namen: Schma Noemi… und stockte.

Hebräisch kennt nicht nur männliche und weibliche Substantive, Adjektive und Pronomen, sondern auch männliche und weibliche Verbformen. Schma Jisrael ist die männliche Verbform in der Einzahl für einen männlichen Empfänger. Schma Noemi tönt nicht nur falsch, es ist sprachlich falsch. Müsste für eine Empfängerin nicht die weibliche Verbform eingesetzt werden, selbst bei direkt aus der Thora übernommenem Text? Also: Schimi Noemi! Doch die nächste Stolperstelle folgt sogleich. Das hebräische «Dein Gott» ist männlich nicht gleich wie weiblich, aus Elohecha muss Elohajich werden, denn Possessivpronomen passen sich selbstredend auch an.

Am ersten Abschnitt des Schma Grammatik üben? Kurze Zeit später trug ich diese intrigierende Sprachübung an einem Tikkun Leyl Schawuot vor, an welchem viel Fakultät des Seminary anwesend war. Gerade wenn zu Schawuot die Ereignisse am Sinai erinnert werden, müssen wir die Vorstellung pflegen, dass die Frauen nicht nur dort waren, sondern auch direkt angesprochen wurden. So war es bei der Offenbarung bestimmt von Gott gewollt, und deshalb ist die Sprachübung richtig. Aber intrigierend? Wenn ein derart geläufiger Text nur ein bisschen anders tönt, erschüttert das die routinierte Wahrnehmung. Das plötzliche Schockerlebnis wirft den Denkmotor augenblicklich an, garantiert.

Manchmal bekommt man in der Synagoge einen Segen, Mi-scheberach. In der geschlechtersensitiven Welt werden nicht nur Awraham, Jizchaq und Jakow, also die Vorväter Awotenu, sondern auch die Vormütter Immotenu erwähnt. Doch wenn Immotenu nicht wortwörtlich gesagt wird, sind Sara, Riwka, Rachel und Lea plötzlich Vorväter. Welches Ohr kann das ertragen?

Schliesslich zu Paraschat Nasso, bezüglich Bewusstseinspflege eine Woche nach Schawuot sehr treffend. Die Worte des Schma sind vielleicht der einschlägigste Thora-Text, aber nicht unbedingt der wirkungsmächtigste. Hier findet sich Birkat Kohanim, der göttliche Segen, der durch die Priester an die Israeliten gegeben wird (Num 6:24–26). Die Segensformel hat nicht nur in der Synagoge liturgisches Gewicht, sondern auch in der häuslichen Religionspraxis. Eltern segnen ihre Kinder an Schabbat und Feiertagen, Jungen sollen werden wie Ephraim und Menasche, Mädchen wie Sara, Riwka, Rachel und Lea, gefolgt vom Aaronitischen Segen, der für beide Geschlechter wörtlich aus der Thora übernommen wird, in der männlichen Form. Es ist so stossend, dass nicht einmal im Moment der Segnung eines weiblichen Menschen die Sprache stimmt und sie so als Frau sichtbar werden darf. Doch das geht – wir haben geübt:

«Jewarechech Adonai vjischmerech.
Jaer Adonai panav elajich vichunek.
Jissa Adonai panav elajich vjasem lach schalom.»

Rabbiner Bea Wyler